Am Ende eines endlosen Tages des Schreckens werden die drei Terroristen von der Polizei getötet. Auch mehrere Geiseln sterben. Die Anwohner fühlen sich wie im Krieg.

Paris - Kurz vor Einbruch der Dunkelheit zerreißen Maschinengewehrsalven und Explosionsdonner die Stille, erst in der 8000-Seelen-Gemeinde Dammartin-en-Goële, dann, Sekunden später nur, 40 Kilometer weiter südlich in Paris. Frankreich erwacht aus einem Albtraum. Hier wie da haben die Sicherheitskräfte die Oberhand behalten. In Paris haben sie Geiseln aus der Gewalt der Terroristen befreit, in Dammartin hat sich ein Angestellter stundenlang vor den Peinigern versteckt. Seelisch sichtlich mitgenommen, aber körperlich unversehrt verlassen die mit dem Schrecken Davongekommenen die Kampfschauplätze: die im Industriegebiet von Dammartin gelegene Druckerei CTD, den kleinen jüdischen Supermarkt im Osten von Paris. Sanitäter nehmen Strauchelnde an der Hand, geleiten sie über die Straße.

 

Die Erleichterung über das Ende der Geiseldramen soll indes nicht lange währen. Nach wenigen Minuten weicht sie bleierner Schwere. Aus dem Élysée-Palast dringt die Nachricht, dass Staatschef François Hollande den Sicherheitskräften den Befehl zum Angriff erteilt hat, weil er keine andere Wahl mehr hatte.

Der am frühen Nachmittag in den Pariser Supermarkt eingedrungene Terrorist, der 32-jährige Frankoalgerier Amedy Coulibaly, der am Vortag im Süden von Paris bereits eine junge Polizistin erschossen haben soll, hatte kurz vor 17 Uhr mit der Hinrichtung der in seine Gewalt geratenen Kunden begonnen. Medienberichten zufolge konnte die Polizei mithören, weil der Täter nach einem Telefongespräch den Hörer nicht richtig auflegte. Für vier von den Geiseln kommt der Sturm auf das koschere Lebensmittel feilbietende Geschäft zu spät. Sie seien kurz zuvor umgebracht worden, sagt ein Sprecher. Vier weitere Geiseln überleben schwer verletzt. Der Geiselnehmer selbst stirbt im Feuergefecht mit den Elite-Polizisten.

Nicht nur Blutvergießen dämpft die Stimmung

In Dammartin hatte sich ein Mann seit dem Morgen vor den Dschihadisten in der Druckerei versteckt. Er hat den Sturmangriff überlebt. Ständig war er in Gefahr, in die Gewalt der Brüder Chérif (32) und Said Kouachi (34) zu geraten, die am Mittwoch mit Kalaschnikows in die Redaktion des Satireblattes „Charlie Hebdo“ eingedrungen waren und acht Journalisten, einen Redaktionsgast, eine Reinigungskraft sowie zwei Polizisten erschossen hatten. Zeugenaussagen, genetische Fingerabdrücke und der im Fluchtfahrzeug zurückgelassene Ausweis Said Kouachis weisen die Brüder als Urheber des Blutbads aus.

Was den beiden zwei Tage zuvor geglückt war, wiederholt sich nicht. In Paris hatte sich das Geschwisterpaar den Fluchtweg frei geschossen. Als sie am späten Freitagnachmittag mit der Kalaschnikow in der Hand die Flucht nach vorne anzutreten versuchen, werden sie erwartet. Auf den Dächern ringsum postierte Scharfschützen eröffnen das Feuer. Die Brüder sterben.

Angesichts von sieben Toten von einem glücklichen Ausgang des Geiseldramas zu sprechen ist schwer möglich. Die Gesichtszüge des französischen Innenministers Bernard Cazeneuve, der später Erfahrung, Professionalität und Kompetenz der Sicherheitskräfte preist, scheinen den Politiker Lügen zu strafen. Deprimiert wirkt er.

Aber nicht nur das Blutvergießen dämpft die Stimmung. Da ist auch die Sorge, dass der Terror mit dem Tod der drei Geiselnehmer noch nicht zu Ende ist. Der Oberbefehlshaber einer Antiterror-Brigade weckt sie. Als General Tauzin stellt er sich vor. Der Polizeichef widerspricht der Einschätzung des Innenministeriums vom Vortag, wonach es zwischen den Anschlägen der vergangenen Tage keinen Zusammenhang gebe. „Mir scheint das Ganze eine Terrorkampagne gegen Frankreich zu sein“, sagt der Oberbefehlshaber. „Und das hier ist vermutlich erst der Anfang.“

Informationen über eine Art Verschwörung kursierten schon seit dem Nachmittag. Der im Zusammenhang mit dem Polizistinnenmord von Montrouge gesuchte Coulibaly und der in Dammartin-en-Goële verschanzte Chérif Kouachi sind demnach gute Bekannte. Sie gelten als Waffenbrüder. Beide saßen 2009 im gleichen Gefängnis ein. Womöglich sind sie Teil eines Terror-Bündnisses.

Kouachi war Vordenker von Al-Kaida in Jemen

Eine dem französischen Geheimdienst Anfang Januar von den algerischen Kollegen übermittelte Warnung vor „unmittelbar bevorstehenden Attentaten einer französischen Al-Kaida-Gruppe“ legt den Schluss zumindest nahe. Dass es sich bei allen vier Gesuchten um Frankoalgerier handelt, deutet ebenfalls darauf hin. Hiobsbotschaften sind dies am Ende eines Tages, der wie ein einziger Albtraum scheint.

Schließlich wird am Abend bekannt, dass die drei Attentäter sich womöglich eng abgestimmt haben. Der französische Fernsehsender BFMTV strahlt am Freitagabend Originaltöne von Telefongesprächen aus, die er vor den Zugriffen der Polizei mit den Terroristen geführt hat. In einem Gespräch sagt Amedy Coulibaly im Supermarkt, er habe sich mit den Brüdern Chérif und Said Kouachi abgesprochen. Die beiden sollten das Satireblatt „Charlie Hebdo“ angreifen, und er wollte Polizisten ins Visier nehmen. Er behauptet, er habe Instruktionen von der Terrormiliz Islamischer Staat bekommen.

Chérif Kouachi, der mit seinem Bruder bei dem Anschlag auf „Charlie Hebdo“ zwölf Menschen getötet haben soll, sagt in seinem Telefongespräch, er sei von Al-Kaida im Jemen missioniert worden. Finanziert worden sei er von Anwar al-Awlaki. Der jemenitische Terrorist mit US-Pass war jahrelang Vordenker des Terrornetzwerkes Al-Kaida auf der Arabischen Halbinsel und wurde 2011 im Jemen getötet.

Unklar ist weiterhin die Rolle der Lebensgefährtin von Amedy Coulibaly. Wegen der tödlichen Schüsse auf die Polizistin in Montrouge wird die 26-jährige Hayat Boumeddiene von der Polizei gesucht. Berichte, wonach sie auch an der Geiselnahme im Supermarkt beteiligt gewesen sein soll und entkommen konnte, wurden bisher nicht bestätigt.

Hoffnung auf unblutiges Ende erfüllt sich nicht

Am Freitagmittag haben die Franzosen noch die leise Hoffnung, die Jagd nach den Terroristen könne ohne weitere unschuldige Opfer enden. Aber Geduld ist gefragt. In Dammartin bietet sich seit Stunden das gleiche Bild. Der regenverhangene Himmel, die topfebene Landschaft, das Industriegebiet mit dem am Ostrand gelegenen grauen Betonklotz. Die Brüder Kouachi haben sich nach einer Verfolgungsjagd mit der Polizei und einem wie durch ein Wunder unblutig verlaufenen Schusswechsel am Morgen in dem Gebäude verschanzt.

Auf dem regennassen Asphalt verwaister Straßen spiegelt sich das zuckende Blaulicht der Mannschaftswagen. Am Horizont sind Flugzeuge zu erkennen, die den zehn Kilometer entfernten Flughafen Charles de Gaulle ansteuern. Und auch die Jets werden wenig später umgeleitet.

Sicherheitsexperten äußern Vermutungen, dass sich das Geiseldrama Stunden, ja Tage hinziehen könnte. Bereits beim Überfall auf „Charlie Hebdo“ hatten die Brüder Kouachi erschreckende Kaltblütigkeit bewiesen. Seit Freitag wissen die Verfolger obendrein, dass Said Kouachi im Jemen bei Al-Kaida eine einjährige militärische Ausbildung zum Terroristen absolviert hat. Schwer vorstellbar, dass Leute dieses Kalibers nach ein paar Stunden zermürbt aufgeben oder den Kopf verlieren.

Irrtümlich Ausgang ohne Tote und Verletzte gemeldet

Die Antiterror-Einheiten haben einen doppelten Belagerungsring um Dammartin gezogen. Die Streitmacht der Sicherheitskräfte ist auf mehrere Tausend Mann angewachsen. Insgesamt sind 90 000 Mann aufgeboten. Am Himmel knattern drei Hubschrauber, scheinbar bewegungslos. Innenminister Bernard Cazeneuve sagt, die Sicherheitskräfte hätten mit den Geiselnehmern Kontakt aufgenommen. Nur: Was sollen sie den Terroristen anbieten, damit diese ihre Geisel freilassen, gar aufgeben? Ein Sicherheitsexperte will an die Möglichkeit glauben, die Brüder beim Ehrgefühl packen zu können. Es gelte ihnen zu suggerieren, dass sie es zu Weltruhm gebracht hätten und mehr nicht erreichen könnten.

Doch zur Mittagszeit fallen neuerliche Schüsse, diesmal im Osten der Hauptstadt nahe der Ringautobahn. Die Hoffnungen auf einen halbwegs erträglichen Ausgang der Geschehnisse schwinden. Ein 20 Sekunden währender Schusswechsel schreckt Anrainer und Passanten auf. Amedy Coulibaly schießt sich seinen Weg in den Supermarkt frei. Stunden später, kurz vor Einbruch der Abenddämmerung, gibt der Staatschef dann den Befehl zum Angriff. Der Fernsehsender i-Tele meldet irrtümlich den glücklichen Ausgang der Geiseldramen, ohne Tote oder Verletzte. Dann sickern die blutigen Fakten langsam durch. Und am Abend dann wird Frankreichs Premier Manuel Valls sagen: „Es kann immer noch Attacken gegen uns geben. Wir dürfen nicht die Deckung runternehmen.“