Vom Lehrfundament und Ethos her ist der Islam nicht gewalttätiger als das Christentum und das Judentum – das ist der Konsens unter den Fachleuten. Wo liegen dann die Ursachen für den islamistischen Terror einzelner Gruppen?

Kairo - Seit Monaten hält eine Welle bestialischer Verbrechen die Welt in Atem – nach den Deklamationen der Täter alle verübt im Namen des Islam. In Syrien enthaupteten die Extremisten westliche Geiseln. In Irak und Syrien massakrierten sie Tausende Opfer, Jesiden und Christen sowie Schiiten. In Pakistan ermordeten sie 132 Schulkinder, in Kanada exekutierten sie einen Soldaten im Zentrum von Ottawa. In Sydney nahmen sie australische Cafébesucher als Geiseln. In Nigeria löschten sie ein Dutzend Dörfer mitsamt ihrer Einwohner aus. In Paris töteten sie jetzt 12 Menschen im Büro der Satirezeitschrift „Charlie Hebdo“, bei einem zweiten Anschlag eine Polizistin – und in der darauffolgenden Geiselnahme gab es weitere Tote.

 

Wie ist diese spektakuläre Häufung religiös motivierter Gewalttaten zu erklären? Wie gewalttätig ist der Islam? Was könnte auf die Menschheit noch zukommen? Von Lehrfundament und Ethos her ist der Islam nicht gewalttätiger als Christentum und Judentum – so der Konsens unter den Fachleuten. Passagen, die von Gewalt oder Krieg reden, sind im Koran genauso selten wie im Neuen und Alten Testament.

Ist Zwang in der Religion erlaubt oder nicht?

Und trotzdem erlebt der Islam derzeit die schwerste Legitimationskrise seiner modernen Geschichte. Vor allem der sunnitische Islam, wie er als religiöse Institution organisiert ist, kann angesichts der Fanatiker in den eigenen Reihen seine Kernbotschaft nicht mehr kohärent begründen.

Gilt das Tötungsverbot, oder gilt es nicht? Warum machen sich inzwischen Selbstmordattentate breit wie eine Pest? Sind Selbstmordattentäter Massenmörder oder Aspiranten für das Paradies? Ist das Abschlagen von Kopf und Gliedmaßen, das Auspeitschen bei religiösen Verstößen Lehre des Islam oder nicht? Warum ist der Eintritt in den Islam frei, der Austritt dagegen nach der Scharia mit dem Tode bedroht? Warum werden Frauen bis heute diskriminiert? Warum dürfen Nichtmuslime nicht nach Mekka und Medina? Warum dürfen Christen auf dem Boden von Saudi-Arabien, dem Ursprungsland des Islam, keine Kirchen bauen und noch nicht einmal Gottesdienst feiern? Ist Zwang in der Religion erlaubt oder nicht? Und wie hält es die islamische Doktrin mit der modernen Toleranz gegenüber Andersgläubigen oder Nichtgläubigen?

Eine Debatte zu den Wurzeln der Radikalen gibt es nicht

„Die Islamisten haben im Prinzip nichts Neues erfunden. Sie haben schlicht die Inhalte des gängigen Islamverständnisses überspitzt und radikalisiert“, urteilt der Palästinenser Ahmad Mansour, Mitglied der Islamkonferenz in Deutschland. Ihre Haltung zum Umgang mit „Ungläubigen“, ihre Haltung zur Umma, zur religiösen Gemeinschaft der Muslime, oder zur Rolle von Mann und Frau unterscheide sich „nur graduell, nicht prinzipiell“. Und so verdankten die radikalen Strömungen ihre Gefährlichkeit nicht so sehr der Differenz zum „normalen“ Islam als vielmehr der Ähnlichkeit.

Kein Wunder, dass angesichts dieser systematischen Unschärfe zwischen „normal“ und „radikal“ niemand mehr überzeugend formulieren kann, wie das moralische Fundament des Islam und seine Anthropologie eigentlich aussehen. Herkömmliche Theologie und Koranausbildung sind den Herausforderungen der modernen Welt nicht mehr gewachsen. Das geistige Establishment der sunnitischen Gelehrten wirkt kraftlos, kleinkariert und autoritär erstarrt – unfähig, gegen die blutrünstigen Verirrungen in den eigenen Reihen aufzustehen und sie zu korrigieren. Entsprechend halbherzig und nebulös fallen die Abgrenzungen im Nahen Osten zu der Gewaltbotschaft der Dschihadisten aus. Und eine breite innermuslimische Debatte zu den geistigen Wurzeln der Radikalen findet nicht statt.

Die Fanatiker gebärden sich als von Gott autorisiert

So brauchte der saudische Obermufti ganze zwei Monate und erst eine wütende TV-Gardinenpredigt von König Abdullah über „die Faulheit und das Schweigen“ der Klerikerkaste, bis er die Terrorgruppe Islamischer Staat öffentlich verurteilte und als „Feind Nummer eins des Islam“ disqualifizierte. Zwei Jahre zuvor, im März 2012, dagegen hatte der 71-jährige Chefprediger selbst in einer Fatwa gefordert, den Bau christlicher Kirchen auf der Arabischen Halbinsel zu verbieten und existierende Kirchen zu zerstören. Ahmad Mohammad al-Tayyeb, Oberster Gelehrter von Kairos Universität Al-Azhar, die sich im Ruf der wichtigsten Lehranstalt des sunnitischen Islam sonnt, nannte den Islamischen Staat mehrfach eine „zionistische Verschwörung“, die die arabische Welt auf die Knie zwingen soll.

Die selbst ernannten Verteidiger des Islam dagegen inszenieren sich als Furor Allahs auf Erden und berauschen sich an ihrer Macht über Leben und Tod. Die Fanatiker gebärden sich als von Gott autorisierte Exekutoren des Jüngsten Gerichtes, die auf Erden die letztgültige Verurteilung über alle anderen Menschen vollstrecken dürfen – eine hochtoxische Quelle von Gewalt, die die Welt ohne Zweifel die nächsten Jahrzehnte in Atem halten wird. Papst Franziskus warnte bereits vor einem „dritten Weltkrieg auf Raten“. „Wir erleben einen Terrorismus von einer zuvor unvorstellbaren Dimension“, sagte das katholische Oberhaupt. „Mir scheint, dass das Bewusstsein um den Wert des menschlichen Lebens verloren gegangen ist. Es scheint, dass die Person nichts zählt und dass man sie anderen Interessen opfern darf.“

Obama wird so deutlich wie kein US-Präsident vor ihm

Barack Obama wurde in seiner letzten Rede vor der UN-Vollversammlung so deutlich wie vor ihm noch kein amerikanischer Präsident. „Letztlich ist die Aufgabe, religiöse Gewalt und Extremismus zurückzudrängen, ein Generationenprojekt – und eine Aufgabe für die Völker des Nahen Ostens“, erklärte er. „Diese Transformation der Köpfe und Herzen – das kann keine ausländische Macht herbeiführen.“