Beim Iceland-Airwaves-Musikfestival in Reykjavík werden alljährlich alle Sorgen weggetanzt.

Freizeit & Unterhaltung: Anja Wasserbäch (nja)

Sie kommen von überall her: aus Kanada, Amerika, Spanien, Schweden, Deutschland und England. So wie Leila aus Birmingham. Leila, ein Mädchen mit kajalumrandeten Augen und glitzerndem Paillettenoberteil. „It is amazing“, quietscht sie. Ja, es ist durchaus erstaunlich, was hier in Reykjavík jedes Jahr im Oktober passiert. Vor vier Stunden ist Leila in Keflavík, dem Flughafen in der Nähe des Touri-Hotspots Blaue Lagune, gelandet. Jetzt steht sie im Idno, einem wunderschönen Jahrhundertwendehaus, das inzwischen als Konzertvenue genutzt wird. Vielleicht ist sie wegen der Band Seabear da. Vielleicht auch wegen des Isländers, den sie gerade im Arm hat. Wahrscheinlich wegen beidem. Von Donnerstag bis Sonntag will Leila hier bleiben. Bands sehen, die Landschaft bestaunen, in der Blauen Lagune planschen.

 

Jeden Herbst beginnt in Reykjavík die fünfte Jahreszeit, das Iceland-Airwaves-Festival, das längst zum Wirtschaftsfaktor geworden ist. „Mit Künstlern und Touristen kommen hier jedes Jahr rund 5000 Menschen her“, sagt Nick Knowles, Marketingmanager des Festivals, das inzwischen so groß geworden ist, dass es jemanden wie ihn eben braucht. Die Festivalbesucher sind Popfans, aber eben auch Touristen. Wenn sie nicht feiern und trinken, buchen sie Klassiker wie die Golden Circle Tour, die einen im Bus zum Gulfoss-Wasserfall, einem Geysir-Feld, auf dem es nach Kinderpups riecht, und zum mittelozeanischen Rücken bringt. Das Festival ist gut für Island, für die Wirtschaft und die Wirtschaften. Getrunken wird immer. Geshoppt auch.
Die Einkaufsmeile Laugavegur ist ein Chamäleon. Tagsüber öffnen hübsche Designlädchen, nachts die Kneipen. Es ist ein bisschen wie Prenzlauer Berg im Miniformat. Und nirgendwo gibt es schönere Frauen und coolere Männer. Es ist ein Ort, an dem sich jede Frau geschmeichelt fühlt, wenn sie für eine Isländerin gehalten wird, und total langweilig, wenn sie mit Klamotten aus europäischen Geschäften einkleidet ist. Hier ist jeder kreativ, trägt den kratzenden Wollpulli, den man sonst auf dem Rücken von Islandponys vermuten würde, zum Glitzerröcken. Sie essen spät in der Nacht die legendäre Hummersuppe im Saegreiffin, mampfen bibbernd Hotdogs am Straßenrand. Man mag es sich kaum vorstellen, dass dieses Kaff Reykjavík, das mit rund 120000 Einwohnern gerade mal so groß wie Heilbronn ist, das Kreativkompetenzzentrum sein soll.

Die Isländer haben kein Geld mehr, dafür aber jede Menge heißes Wasser. Und weil’s davon so viel gibt, werden die Gehsteige der Laugavegur im Winter beheizt, an einem Strandabschnitt außerhalb Reykjavíks kann man sogar baden, weil hier heißes Wasser zugeführt wird. So sind sie, die Isländer – immer für eine Idee gut. Für einen Witz sowieso. Es gibt da beispielsweise die Werbung. „Es sind nicht die Landschaft und die Natur, die auf Island so beeindrucken. Es ist die Tatsache, dass der Prime Minister im Telefonbuch steht.“ Diese Werbung sagt viel aus über das Völkchen. Der Bürgermeister von Reykjavík ist seit über einem Jahr Jón Gnarr, ein ehemaliger Komiker, der folgende Punkte in seinem Wahlprogramm stehen hatte: offene statt heimliche Korruption, kostenlose Handtücher für alle Schwimmbäder und, bitte schön, einen Eisbären für den örtlichen Zoo.

Und weil sich die Isländer auch nicht von einer Aschewolke erschrecken lassen, machen sie diese zur Marke. Eyjafjallajökull steht auf einem T-Shirt. Dahinter in Lautschrift, wie man den Zungenbrecher des Jahres 2010 richtig ausspricht: Eja-fialla-jökull. Damit ist der Vulkan E 15 gemeint, der den Flugverkehr nicht nur über Island lahmlegte. Im selben Laden mitten in Reykjavík gibt es ausgestopfte Papageientaucher und gestrickte Islandpullis zu kaufen. Selbstverständlich auch noch CDs von Björk, Sigur Rós, Múm und Seabear. Die Isländer sind stolz auf ihre Helden. Sie lieben ihre Insel. Die Natur. Die Sagen. Die Geschichten von Trollen und Elfen. Literatur. Und ihre Musik. Die meisten Bands, die beim Iceland-Airwaves-Festival auftreten, sind von hier. In den Kneipen wie dem Kaffibarinn, an der sogar Blur-Sänger Damon Albarn Anteile haben soll, trifft man einen bankrotten Ex-Banker. Ein klein wenig verzweifelt schaut er schon aus, als er erzählt, wie schnell es nach oben ging und wie flott nach unten. Und dass er wohl bald mit seiner Familie in eine kleinere Wohnung ziehen muss.

Das Iceland-Airwaves-Festival bedeutet fünf Tage Ausnahmezustand. Vor allem aber ist es die coolste und zugleich charmanteste Party. Haukur S. Magnusson, Chefredakteur des Magazins „The Reykjavík Grapevine“, sagt: „Das ist ein Festival, das keinen Headliner braucht.“ Es sind keine große Namen. Hier haben schon viele gespielt, bevor sie bekannt wurden. 2010 waren das zum Beispiel die Buben von Hurts mit ihren Pomadehaaren und der schwedische Derwisch Robyn. Es geht aber nicht nur um die großen Namen, es geht um das Entdecken von neuer Musik. Viele der Künstler, die meisten natürlich Isländer, spielen nicht nur ein Konzert in diesen Tagen. Irgendwo, wo ein Verstärker reinpasst, wird sich schon ein Plätzchen finden.
„Ja, es ist ein sehr hippes Festival“, gibt Magnusson zu. „Aber meine Mutter kommt auch hierher.“ Überall spielt die Musik. Tagsüber in Cafés, in kleinen Designershops, im Hallenbad und in Plattenläden wie dem 12 Tonar – und in den Nächten, die hier zurzeit länger als anderswo sind, in den Clubs und sogar im Kunstmuseum der Stadt.

Einer der Höhepunkte ist der Samstagnachmittag, an dem die jungen Partymenschen ihren Kater auskurieren. Im 39 Grad warmen Wasser der Blauen Lagune, dem Geothermalfreibad auf der Halbinsel Reykjanes. Mit Kieselerde im Gesicht, Elektromusik aus den Boxen – und, natürlich, einem Blue-Lagoon-Cocktail in der Hand. „Der Herbst ist die Zeit des Iceland-Airwaves-Festivals“, sagt Loa Hlin Hjalmtysdottir, Sängerin der isländischen Band FM Belfast, die in der vergangenen Festivalwoche mehr als sieben Konzerte gespielt hat. „Wir sind ganz froh, wenn dann die ganzen Gore-Tex-Touristen verschwunden sind.“

Reykjavík

Anreise
Die Fluglinie Icelandair bietet Flüge plus Festivalticket ab 344 Euro an. Man kann sogar gleich ein Hotelpaket mitbuchen (www.icelandair.de). In diesem Jahr findet das Iceland-Airwaves-Musikfestival in Reykjavík vom 12. bis 16. Oktober statt
(www.icelandairwaves.com).

Unterkunft
Reykjavík bietet Hotels für jeden Geschmack. Meist sind sie preislich jedoch teurer, als wir es gewohnt sind. Wichtig ist, dass die Unterkunft mitten in der Innenstadt liegt, dann lässt sich wirklich alles zu Fuß erkunden. Hier eine Auswahl: Hotel Centrum Reykjavík, ab 80 Euro Nacht pro Person im DZ (www.hotelcentrum.is). Centerhotel Thingholt, ab 90 Euro die Nacht pro Person im DZ (www.centerhotels.com). Es gibt aber auch Apartments (www.roomwithaview.is).

Essen und trinken
Im Seabaron/Saegraeffin (Geirsgata 8) sitzt man auf Plastikfässern, während man die legendäre Hummersuppe aus grünen Tassen löffelt. Es gibt diverse Fischspieße vom Grill, darunter auch „Moby Dick on a Stick“. Wer’s edler mag: Die Fishcompany (Vesturgötu 2a, www.fishcompany.is) ist kein kühler Designtempel, sondern ein gemütlich eingerichtetes Restaurant. Das „Menu around Iceland“ (circa 50Euro pro Person) vereint, was das kleine Land und das Meer drum herum zu bieten haben. Gùstav Axel, in Island als Koch des Jahres 2010 ausgezeichnet, kombiniert Langusten mit isländischen Pilzen und süßem Fenchel, Lamm serviert er mit Schweinebauch und Artischocken. Nur aus den Boxen singen die Beach Boys – und nicht Björk.

Was Sie tun und lassen sollten
Auf jeden Fall im Hamborgarbúllan (Geirsgata 5) einkehren. In der kleinen Pinte im Hafen gibt es die besten Burger der Stadt.
Auf keinen Fall anfangen, mit einem Isländer über Walfang zu diskutieren. Lieber Skyr, das traditionelle Milchprodukt der Insel, probieren. Und natürlich: in einer heißen Quelle baden.