In der U-Bahn fährt die Angst mit, der Flughafen ist nicht mehr nur der Startpunkt in unbeschwerte Ferien: Wie im „Kriegsgebiet“ fühlten sich Augenzeugen der Brüsseler Terroranschläge vor einem Jahr. Und heute?

Brüssel - Explosionen am Brüsseler Flughafen, in der Metro. Es gibt Tote, Verletzte, lange weiß niemand, wie viele. Am 22. März 2016 geschieht, was Belgien spätestens seit den Terrorserien im benachbarten Frankreich gefürchtet hat: Islamistische Attentäter töten in Brüssel 32 Menschen, fügen mehr als 300 Personen zum Teil schlimmste Verletzungen zu. Terrorwarnungen, Razzien, bewaffnete Soldaten auf den Straßen haben das nicht verhindern können.

 

Die Taten treffen eine Stadt, die vielen ohnehin mehr Symbol ist als Ort. Brüssel, das steht für viele bis zu diesem Morgen im März für die Europäische Union, für Bürokraten, Politiker und ihre vermeintliche Regelungswut. Seither fügt sich der Name in eine Reihe mit Paris, vor Nizza und Berlin. Die Stadt wird zum Schlagwort, aber anders.

Erschrockene Stille

Ein Jahr später kommt die Erinnerung zurück. Aus Afghanistan habe er solche Szenen gekannt, berichtet Eric Mergny vom Brüsseler Militärkrankenhaus „Reine Astrid“, der die medizinische Hilfe am Flughafen koordiniert, der Zeitung „Le Soir“. „Der Flughafen ist für mich mit dem Flug in die Ferien verbunden, ein ziemlich angenehmer Ort, plötzlich verwandelt in ein Kriegsgebiet...“ Erst im Februar 2017 wird das letzte Opfer das Krankenhaus verlassen können.

An jenem Morgen im März 2016 stockt die Stadt, verstummt. Die stets verstopften Straßen sind leer wie nie an diesem Frühlingstag. Blaulicht flackert, Absperrband weht, Polizisten sichern Barrieren. Über dem Europaviertel, sonst von Verkehr durchtost und von Abgas verpestet, liegt erschrockene Stille. Nur Hubschrauber kreisen am Himmel. Unter der Erde, nahe der Metrostation Maelbeek, hat ein Selbstmordattentäter sich und weitere Menschen in die Luft gesprengt.

„Ich habe meine Verletzungen nicht bemerkt“, erzählt die heute 63-jährige Claire Gochet, die die Explosion in der U-Bahn überlebt hat, „Le Soir“. „Die Psychologen haben mir später gesagt, dass ich unter Schock war: Mein Körper war da, aber mein Geist war jenseits von Raum und Zeit.“ Ein Metallsplitter hatte ihre Schädeldecke durchbrochen und berührte das Gehirn.

Menschen rücken zusammen

Die Brutalität der Anschläge lässt die Menschen zusammenrücken. An der historischen Börse in der Innenstadt sammeln sie sich, zünden so viele Kerzen an, dass es riecht wie in einer Kirche. Die Trauernden singen. Blumen bedecken den Boden, die Wände überziehen sich mit Kreidebotschaften. Friedensbotschaften treffen auf Galgenhumor. „#JeSuisFrite“ schreibt einer - in Anspielung auf das in Belgien beliebte Fastfood und den nach den Angriffen auf die französische Satirezeitschrift „Charlie Hebdo“ bekannt gewordenen Slogan.

Die öffentliche Solidarität dient als wärmendes Gegenmittel zur kalten Menschenverachtung der Täter. Ein Ring von Fernsehkameras und Übertragungswagen fängt die Szenen ein.

Die gemeinsame Trauer schafft Rückversicherung, dass „wir“ nicht „die“ sind. Aber wer ist das „Wir“, das hier zum Ziel geworden ist? Bei den Anschlägen von Paris war die Antwort „Frankreich“, die Lebenslust der jungen ausgehfreudigen Pariser, „die Freiheit“.

Entspannung nicht in Sicht

Wer und was ist Brüssel? Belgier und Zugereiste, junge Praktikanten aus aller Welt, Lobbyisten, Journalisten, Politiker. Viele sind auf der Durchreise, ob für Wochen oder Jahre. Sie teilen keine Muttersprache, nicht einmal die Belgier mit ihrem Dauerclinch zwischen Französischsprachigen und Flamen.

In Paris brandet nach jeder Schweigeminute trotzig und tröstend die „Marseillaise“ auf. Vielen Brüsselern fehlt so ein besänftigendes Symbol. Als wenige Tage nach den Anschlägen randalierende Hooligans eine Gedenkveranstaltung stören, löst das eine scharfe politische Debatte im Land aus - Politiker aus Brüssel und dem flämischen Norden schieben einander die Verantwortung zu. Der Terror schüttet die üblichen Gräben nicht zu.

Heute scheint vieles, wie es war. Die schwer bewaffneten Soldaten gehören in Brüssel längst selbstverständlich zum Straßenbild, und zwar schon, seit Ermittler Anfang 2015 eine Terrorzelle im ostbelgischen Verviers ausgehoben haben. Belgien hat mit dem Terror gelebt, lange bevor es ihn erlebt hat.

Die öffentliche Diskussion darüber hält sich in Grenzen. Und welcher Politiker will sich schon dafür einsetzen, solche Vorkehrungen zu beenden? Die Terrorbedrohung gilt nach offizieller Einschätzung weiter als „ernst“ und liegt seit kurz nach den Anschlägen wieder auf Stufe drei von vier. Entspannung nicht in Sicht.

Belgien und der islamistische Terrorismus

Belgien galt schon lange vor den Brüsseler Anschlägen 2016 als eines der am stärksten vom islamistischen Terror bedrohten Länder Europas. Aus dem kleinen EU-Staat zogen besonders viele Kämpfer in den Krieg in Syrien. Immer wieder schlugen Attentäter zu:

- Mai 2014: Bei einem Anschlag auf das Jüdische Museum in Brüssel erschießt der Islamist Mehdi Nemmouche vier Menschen. Der Täter ist Franzose. Er wird später in Frankreich verhaftet und nach Belgien ausgeliefert.

- Januar 2015: Einer der Attentäter der Pariser Anschläge auf das Magazin „Charlie Hebdo“ und einen jüdischen Supermarkt hat Verbindungen nach Belgien. Bei einem Anti-Terror-Einsatz im ostbelgischen Verviers werden eine Woche später zwei mutmaßliche Islamisten erschossen.

- August 2015: Ein Islamist steigt in Brüssel in den Thalys-Schnellzug nach Paris, eröffnet mit einem Sturmgewehr das Feuer und verletzt zwei Menschen schwer. Der Mann wird von Fahrgästen überwältigt und der Polizei übergeben.

- November 2015: Eine Woche nach einer neuen Anschlagsserie in Paris mit rund 130 Toten ruft Belgien nach konkreten Gefahrenhinweisen zeitweise die höchste Terrorwarnstufe für die Region Brüssel aus. Das öffentliche Leben kommt zum Erliegen. Der getötete mutmaßliche Drahtzieher der Pariser Attentate, Abdelhamid Abaaoud, war Belgier mit marokkanischen Wurzeln und lebte früher in der Brüsseler Gemeinde Molenbeek.

- Dezember 2015: Aus Angst vor Terror sagt Brüssel das traditionelle Silvesterfeuerwerk ab.

- März 2016: In Molenbeek wird der Terrorverdächtige Salah Abdeslam gefasst, der eine wichtige Rolle bei den Pariser Anschlägen vom November 2015 gespielt haben soll.

- März 2016: Drei Selbstmordattentäter reißen am Brüsseler Flughafen und in der U-Bahn 32 Menschen mit in den Tod.

- April 2016: Die Belgische Polizei fasst den als „Mann mit Hut“ bekannt gewordenen Mohamed Abrini, der an den Brüsseler Anschlägen beteiligt gewesen sein soll.

- August 2016: Ein Mann greift in Charleroi zwei Polizistinnen auf der Straße mit einer Machete an und verletzt eine von ihnen schwer. Zur Tat bekennt sich die Terrormiliz Islamischer Staat.

Wer steckte hinter den Brüsseler Anschlägen?

Vier Monate nach den verheerenden Anschlägen der Terrororganisation Islamischer Staat (IS) in Paris attackierten islamistische Attentäter am 22. März 2016 auch die U-Bahn und den Flughafen in Brüssel. Die Schlüsselfiguren werden mit beiden Bluttaten in Verbindung gebracht - die Täter gehörten also zum selben Netzwerk. Ein Überblick:

- Khalid El Bakraoui: Der 27-jährige Belgier zündete Ermittlern zufolge die tödliche Bombe in der Brüsseler Metro und kam dabei um. Nach ihm war bereits monatelang wegen der Anschläge in Paris vom 13. November 2015 gesucht worden. Er soll für die Pariser Terrorgruppe ein Haus im belgischen Charleroi gemietet haben, ebenso wie eine konspirative Wohnung in Brüssel.

- Ibrahim El Bakraoui: Der 29-Jährige, wie sein Bruder Khalid in Brüssel geboren, war einer von zwei Selbstmordattentätern am Flughafen Zaventem. 2010 war er zu neun Jahren Haft verurteilt worden, weil er nach einem Überfall mit einer Kalaschnikow auf Polizisten gefeuert hatte. Er kam vorzeitig frei und wurde im Juni 2015 an der türkisch-syrischen Grenze festgenommen. Die Türkei informierte die belgischen Behörden, die El Bakraoui jedoch auf freiem Fuß ließen.

- Najim Laachraoui: Der 24-Jährige aus dem Brüsseler Stadtteil Schaerbeek war Ermittlungen zufolge der zweite Selbstmordattentäter am Flughafen. 2013 soll er sich in Syrien der IS-Terrormiliz angeschlossen haben. Ihm werden Verbindungen zum Pariser Terrorverdächtigen Salah Abdeslam nachgesagt. Laachraouis DNA soll auf Sprengstoff der Pariser Anschläge gefunden worden sein.

- Mohammed Abrini: Der 32-jährige Belgier tauchte als „Mann mit Hut“ auf Überwachungsbildern vom Anschlagsort am Brüsseler Flughafen auf. Erst zweieinhalb Wochen später wurde er gefasst. Auch er soll zuvor schon den Pariser Terroristen geholfen haben. Er sitzt in Belgien in Haft. Auch Frankreich hat ein Verfahren gegen ihn eröffnet.

- Salah Abdeslam: Der 27-jährige Franzose soll beide Anschlagsserien mit vorbereitet haben. Er soll ein Killerkommando zum Pariser Fußballstadion Stade de France gefahren, seinen eigenen Sprengstoffgürtel dann aber abgelegt haben. Ihm gelang die Flucht nach Belgien, wo er untertauchte. Kurz vor den Brüsseler Anschlägen wurde er im Stadtteil Molenbeek gefasst, was die Terrorzelle offenbar so unter Druck setzte, dass sie überhastet zuschlug. Abdeslam wurde später nach Frankreich ausgeliefert und inhaftiert.