Trotz der nuklearen Katastrophe von Fukushima hält Japans Regierung an der Atomenergie fest. Die Atomaufsicht bewilligte den Neustart zweier Reaktoren. Die Mehrheit der Japaner wünscht sich aber einen endgültigen Atomausstieg.

Tokio - Zum ersten Mal, seit die japanische Atom-Regulierungsbehörde NRA im Juli 2013 die Sicherheitsbestimmungen für Atomkraftwerke verschärfte, sollen jetzt zwei ruhende Reaktoren grünes Licht für einen Neustart bekommen. Die Atomregulierungsbehörde veröffentlichte am Mittwoch einen mehr als 400-seitigen Bericht, demzufolge die Anlage Sendai in Südjapan sicher genug ist, um wieder ans Netz zu gehen. Schon im Herbst soll es so weit sein. Damit geht für Japan ein Jahr völlig ohne Atomstrom zu Ende. Zu den befürchteten Stromausfällen kam es dank gesteigerter Energieimporte nicht. Die drittgrößte Volkswirtschaft bezog bis vor der Atomkatastrophe von Fukushima im März 2011 rund 30 Prozent ihrer Energie aus Atomstrom.

 

Während der im Internet übertragenen öffentlichen Sitzung der Regulierungsbehörde protestierten einige Atomkraftgegner gegen die Entscheidung und riefen „Schämt euch!“ Auch vor der Anlage in Sendai gab es laut örtlichen Medien Proteste.

Derzeit gibt es Anträge für 19 Reaktoren

Die meisten Japaner wünschen sich einen Ausstieg aus der Atomenergie. Wochenlang hatten jeden Freitag Zehntausende vor dem Sitz des Premierministers gegen das Anfahren von zwei Reaktoren lautstark protestiert. Aber die aktuelle Regierung unter Premierminister Shinzo Abe hält trotz des schlimmsten nuklearen Unglücks seit Tschernobyl daran fest. Sie betont, dass Reaktoren nur in Betrieb genommen würden, wenn die Atomaufsicht ihre Sicherheit bestätigt. Derzeit bearbeitet die Behörde Anträge von neun Stromfirmen für 19 Reaktoren.

Dabei sah es ein Jahr nach der Katastrophe so aus, als würde sich Japan zu einem Ausstieg durchringen. Die vorige Regierung unter Premierminister Yoshihiko Noda von der demokratischen Partei sagte, sie wolle bis 2039 schrittweise aus der Atomkraft aussteigen. Doch mit dem Regierungswechsel zurück zur altgedienten liberaldemokratischen Partei (LDP) im Dezember 2012 zeichnete sich bald ab, dass dieses Ziel fallen gelassen würde.

Die neue Regierung setzt auf Atomkraft

Nachdem Premierminister Shinzo Abe lange eindeutige Aussagen zur Atomkraft vermied, machte der neue Energieplan seiner Regierung vom April 2014 klar: Atomkraft als wichtiges Element im japanischen Energiemix ist eine „wichtige Stromquelle, die die Stabilität der Struktur von Energieversorgung und -nachfrage sicherstellt“. Abes Begründung und die vieler Industrievertreter lautet: Ohne die stabile Energiequelle Atomkraft würde Japans Wirtschaft leiden und könnte international nicht mithalten.

Nun droht dem Land erstmals seit Einführung der Atomkraft vor 40 Jahren einer der typischen schwülheißen Sommer, in dem ein großer Teil der Energie für die allgegenwärtigen Klimaanlagen und Ventilatoren nicht aus Atomstrom stammt. Alle 48 der verbliebenen kommerziellen Reaktoren – vormals waren es 54 – ruhen seit einem Jahr. Zum Ausgleich führte Japan 2013 Flüssiggas und Kohle für Wärmekraftwerke im Wert von 8200 Milliarden Yen (59,9 Milliarden Euro) ein, was zehn Prozent aller Importe entsprach. Das belastet nicht nur die Handelsbilanz, sondern auch die Bilanzen der Stromanbieter. Diese erhöhten teils die Strompreise.

Bei erneuerbaren Energien gibt es wenige Vorzeigeprojekte

Erneuerbare Energien wie Wind, Solar und Geothermie werden seit der Energiekrise zwar im kleinen Stil ausgebaut. Aber bis die Anlagen einsatzbereit sind, dauert es bei Wind- und Geothermieanlagen oft mehrere Jahre. Bis jetzt gibt es nur wenige Vorzeigeprojekte. Außerdem ist das Stromnetz dafür noch nicht genügend ausgebaut, es fehlt vor allem an Zuleitungen.

Um von der Atomaufsicht die Genehmigung für den Neustart zu bekommen, müssen die Stromanbieter die Sicherheitsvorschriften erfüllen, die die im September 2012 neu gegründete Regulierungsbehörde erlassen hat. Sie ist dem Umweltministerium angegliedert und wird als vergleichsweise unabhängig angesehen. Ihre Vorgängerorganisation gehörte noch zum Wirtschaftsministerium, das die Atomkraft fördert. Zu den erforderlichen Maßnahmen gehört der Bau neuer Schutzmauern vor Tsunamis, besserer Brandschutz und die Installation von Filtern vor den Abzugsöffnungen der AKWs. Sie sollen bei einem Zwischenfall den Ausstoß an radioaktiven Partikeln in die Umwelt verringern. Solche Nachrüstungen kosteten die zehn großen Energiefirmen, die Reaktoren betreiben, insgesamt 2200 Milliarden Yen (16,1 Milliarden Euro), eineinhalb Mal so viel wie vor einem Jahr.

Die Anwohner des AKW Sendai machen sich große Sorgen

Das AKW Sendai gilt auch wegen seiner geografischen Lage als Favorit, weil dort keine nachgewiesenen Erdspalten verlaufen und Erdbeben relativ selten sind. Trotzdem machen sich viele Anwohner Sorgen. Mehr als die Hälfte der Bewohner eines 30 000-Seelen-Städtchens fünf Kilometer entfernt sperrt sich dagegen mit einer Unterschriftenaktion. Der Evakuierungsplan sei ungenügend: So stehe eine enge Straße an der Küste, die als Evakuierungsroute markiert ist, bei Flut regelmäßig unter Wasser. Eine Notunterkunft sei in einem heruntergekommenen und viel zu kleinen Gebäude. Eine Tagesstätte in der Nähe verfüge nicht mal über einen eigenen Notfallplan, obwohl das für alle Einrichtungen wie Schulen, Krankenhäuser und Betreuungseinrichtungen im 30-Kilometer-Radius um ein Atomkraftwerk Pflicht ist, bemängeln sie.

Häufig spricht die Regierung davon, dass Japan über eine der strengsten Sicherheitsvorschriften für AKWs weltweit verfüge. Doch an einer entscheidenden Stelle greifen sie zu kurz, sagen Experten. Denn für welche Evakuierungsmaßnahmen sich örtliche Gemeinden entscheiden, liegt nicht in den Händen der Atomaufsicht oder der Regierung. Das entscheiden die Städte und Gemeinden selbst. Allerdings mangele es den Lokalregierungen an Expertise und Ressourcen, um adäquate Vorbereitungen zu treffen.

Während über das Wiederanfahren der Reaktoren diskutiert wird, dauern die Untersuchungen über die Ursachen der Havarie im Atomkraftwerk Fukushima Daiichi an. Und mehr als 100 000 Menschen können wegen der radioaktiven Belastung der Umwelt nicht in ihre frühere Heimat zurück.