Musikalisches Neuland betreten, abgegriffene Floskeln weglassen, den Fallen der Gewohnheiten und der Unaufrichtigkeiten ausweichen: Diese Prinzipien beherzigt der 83 Jahren Saxofonist Wayne Shorter bis heute – auch beim Konzert seines formidablen Quartetts beim Festival Jazz Open in der Liederhalle.

Stuttgart - Ein wenig verspätet trifft Chucho Valdés vom Frankfurter Flughafen ein, verbeugt sich kurz, setzt sich an den Flügel und schlägt ein paar Töne an, die derart dissonant sind, dass viele Konzertbesucher unversehens aus ihren Gedanken und Gesprächen gerissen werden. Der Perkussionist und der Schlagzeuger hämmern wie wild auf die Trommelfelle, und auch der Kontrabassist reagiert lachend auf die Free-Jazz-Passage. Die gewünschte Aufmerksamkeit ist hergestellt – Mission erfüllt. Zeit für die Belohnung.

 

Der Rhythmus verdichtet sich und kehrt lustvoll in Valdés’ afrokubanische Heimat zurück, beginnt zu tanzen, und der 75-Jährige lässt sich davon beflügeln, fächert fingerfertig die Harmonien auf, bis aus deren Reibung sprühend Funken schlagen. Latin Jazz ist keine Wassermusik, Latin Jazz ist Feuerwerksmusik! Glasklar und ein wenig zu laut abgemischt klingt Valdés’ Klavierspiel, der Anschlag ist entschieden und nicht ohne Härte. Ab und zu reduziert der Mann aus Havanna seine perlenden Läufe und seine griffigen Akkorde auf ein Minimum, um seinen drei jüngeren Kollegen Entfaltungsmöglichkeiten einzuräumen.

Von Kuba macht das Quartett dann einen Abstecher nach Argentinien, und manches Paar im Saal würde jetzt liebend gern den „Tango for Lorena“ tanzen. Die Schärfe des Jazz und das Tänzerische, Rhythmusbetonte Lateinamerikas finden bei Valdés und seiner strahlenden Truppe zusammen. „Poco Loco“ lautet ein Titel, ein bisschen verrückt geht es auch zu. Chucho Valdés, von dem es heißt, dass er als Dreijähriger mit beiden Händen Lieder aus dem Radio in verschiedenen Tonarten nachspielen konnte, demonstriert seine pianistischen Fertigkeiten, als er Chopins Präludium Nr. 4 in e-Moll spielt und in eine temperamentvolle Latin-Jazz-Nummer münden lässt. Großer Applaus der rund tausend Besucher, darunter viele Musikstudenten.

Die Menschen lassen sich von Shorters verkürztem Saxofonspiel berühren.

Das formidable Klaviertrio, das die lebende Jazzlegende Wayne Shorter seit sechzehn Jahren begleitet, tastet sich dann behutsam in das Konzert hinein. Da ein Tupfer vom Klavier, hier ein zögerlicher Bogenstrich des Kontrabassisten, ein metallisch flirrendes Geräusch vom Drummer. Die drei Musiker flankieren ihren Boss, der auf einem Lehnstuhl Platz genommen und sein golden schimmerndes Tenorsaxofon umgehängt hat. Er wirft ein paar hohe Töne ins Spiel, deutet eine Phrase an, unterbricht sich, lässt wieder ein paar Töne emporsteigen und überlässt seinem Pianisten Danilo Pérez für eine Weile die Führung, lässt Brian Blade, das Energiebündel am Schlagzeug, ein bisschen rascheln, während John Patitucci einen Basslauf skizziert. Erst ganz allmählich nimmt die Sache Fahrt auf, der Drummer wirbelt, das Klavierspiel gewinnt an Prägnanz, der Bass marschiert, nur Wayne Shorter stimmt ein elegisches Lied an.

Trauer ist dem 83-jährigen Holzbläser aus Newark seit dem Tod seiner Tochter und dem Flugzeugabsturz seiner zweiten Frau nicht fremd. Vielleicht ist es aber auch die Wehmut eines alten Mannes, der auf sein Leben zurückblickt. Sein Saxofonspiel ist seit dem vogelwilden Jazz-Open-Auftritt mit Herbie Hancock am Schlossplatz vor drei Jahren jedenfalls merklich sanfter geworden – ein wenig brüchiger ist der Ton, der an sinnlicher Kraft verloren hat, und deutlich kurzatmiger das Spiel. Doch dieses Mal folgen die Besucher aufmerksam dem Geschehen und verlassen nicht scharenweise das Konzert, wie es auf dem Schlossplatz 2014 noch der Fall war. Nicht allein deshalb, weil sie wissen, dass dieser alte Mann da oben Jazzgeschichte geschrieben und sich unvergesslich gemacht hat, 1959 bei Art Blakeys Jazz Messengers, sechs Jahre mit dem tollen zweiten Quintett von Miles Davis und dann mit der erfolgreichen Fusioncombo Weather Report, die er 1970 mit Joe Zawinul gegründet hat. Nein, dieses Jahr lassen sich die Menschen im Hegelsaal von Shorters verkürztem Saxofonspiel berühren.

Der Stuttgarter Philosoph Hegel, Namensgeber des Saals, wusste, dass die Schönheiten der Musik denen verwehrt bleiben, die nicht ihr Innerstes öffnen, die Seele. Wayne Shorter, bekennender Nichiren-Buddhist und Anhänger von Soka Gakkai, pflegt vor den Konzerten mit seinen drei hervorragenden Musikern einen Kreis zu bilden. Er spricht ihnen zu, mutig zu sein und – ohne Netz und doppelten Boden – musikalisches Neuland zu betreten, abgegriffene Floskeln wegzulassen, um so den Fallen der Gewohnheiten und der Unaufrichtigkeiten auszuweichen. Patitucci, Pérez und Blade haben das bei diesem denkwürdigen Konzert wieder beherzigt. Im letzten Konzertteil greift der alte Mann zu seinem geliebten Sopransaxofon, und sein Spiel wird rauer, kraftvoller und intensiver. Am Ende wird seine Klage zum Schrei.

Termine: Heute spielt bei den Jazz Open Kamasi Washington im Alten Schloss, alle weiteren Konzerte sind im Netz zu finden unter www.jazzopen.com