Karl-Theodor zu Guttenberg ist ein tragischer Held. Denn die Fallhöhe ist bei diesem Mann von Adel enorm, sagt der Schriftsteller Joachim Zelter.    

Stuttgart - Mit seinem Roman „Der Ministerpräsident“ hat sich Joachim Zelter als Experte für politische Inszenierungen ausgewiesen. Im Sturz des Karl Theodor Maria Nikolaus Johann Jacob Philipp Franz Joseph Sylvester Freiherr von und zu Guttenberg – das ist der vollständige Name – entdeckt er deshalb auch Parallelen zum Theater. Der Rücktritt des Verteidigungsministers, so der 48-jährige Schriftsteller, führe zu einer „rituellen Reinigung der Emotionen“.

 

Herr Zelter, freuen Sie sich über den Rücktritt des Verteidigungsministers?

Nein, eigentlich nicht. Ich empfinde diesen Rücktritt so, wie ich auch viele andere Rücktritte der vergangenen Jahre empfunden habe: als Vorgang, der nach einem bestimmten Muster abläuft und Teil einer Politik ist, die auf Individualisierung, Moralisierung und – in der letzten Phase – auf Dämonisierung setzt. Ich sehe mich da als neutralen Beobachter.

Dass sich ein Mann, der es zu Amt und Würden gebracht hat, einen Doktortitel erschwindelt, empört Sie nicht?

Empören? Nein! Guttenberg hat einen Fehler gemacht, das steht fest – aber bezeichnender finde ich doch, dass er glaubte, er müsse als Politiker unbedingt einen Doktortitel haben: Da muss ein massiver Druck auf ihm gelastet haben, ein Druck, den womöglich seine Familie auf ihn ausgeübt hat und der dann zu der groben Verfehlung des Abschreibens führte. Ich habe eher Mitleid mit Guttenberg, denn ich habe ja auch promoviert...

Eben!

... und weiß, wie groß die Bedeutung eines Doktortitels sein kann, nicht nur für die Karriere, sondern auch für das Selbstbild und das Auftreten eines Menschen. Entsprechend groß ist eben der Druck, diesen akademischen Titel zu erlangen. Im Übrigen halte ich es mit Nietzsche: Niemand lügt so viel wie der Entrüstete. Nein, ich sehe den Fall Guttenberg im Zusammenhang mit einem politisch-kulturellen System.

Wie sieht dieses System aus?

Es funktioniert nach der Logik einer Tragödie. Egal, ob sie aus der Antike stammt oder von Shakespeare kommt: man hat einen exponierten Herrscher, der auf dem Gipfel seiner Macht einen gravierenden Fehler begeht, ins Bodenlose stürzt und deshalb zum tragischen Helden wird. König Lear geht es so, Richard II. auch – und in einem gewissen Sinne ereilt jetzt auch Karl-Theodor zu Guttenberg dieses Schicksal. Was da geschieht, hat vor mehr als zweitausend Jahren schon Aristoteles in seiner „Poetik“ beschrieben, als er sich mit der Peripetie, dem Umschlag von Glück in Unglück, auseinandersetzte. Soll ich daraus zitieren?

Ja, aber bitte korrekt!

Aristoteles schreibt, dass der ideale Held der Tragödie „nicht trotz seiner sittlichen Größe und seines hervorragenden Gerechtigkeitsstrebens, aber auch nicht wegen seiner Schlechtigkeit und Gemeinheit einen Umschlag ins Unglück erlebt, sondern wegen eines Fehlers“. Es ist also nicht der Charakter, der einen Helden zum tragischen Helden macht, sondern – ich wiederhole – der Fehler! Kein diabolischer Fehler, sondern einer, den auch andere machen könnten. Guttenberg ist, glaube ich, ja kein besserer oder schlechterer Mensch als wir alle...

... aber ein Mensch, um in der Dramentheorie zu bleiben, mit einer größeren Fallhöhe!

Unbedingt. Das hängt mit dem kometenhaften Aufstieg dieses Politikers zusammen. Sagenhafte Umfragewerte, als künftiger Kanzler gehandelt – er war fast schon ganz oben, weshalb sein Sturz nun umso tiefer ausfällt. Selbst, als er gestern in Berlin seinen Rücktritt erklärte, fühlte ich mich noch an das antike Drama erinnert. Er benutzte, bewusst oder unbewusst, Begriffe wie „Charakter“ und „Mitleid“, „Schwächen“ und „Fehler“, eben Begriffe, die auch schon bei Aristoteles vorkommen. Gestern wechselte Guttenberg, wenn man so will, ins tragische Fach über und ermöglichte nicht nur sich, sondern uns allen eine Katharsis, eine rituelle Reinigung – und diese Reinigung von allen Emotionen ist notwendig, um sich wieder anderen Themen und Personen zuzuwenden. Schon jetzt kümmern sich die Nachrichten ja nicht mehr um Guttenberg, sondern um seinen Nachfolger.

Seite 2: "Ambivalente Wahrnehmung des Adels"

Zurück zur enormen Fallhöhe des Ministers: welche Rolle spielt da die adlige Herkunft?

Auch wenn der Adelstitel allein für den steilen Aufstieg nicht gereicht hätte: er spielt eine Rolle. Er hat Guttenbergs Glamour, seinen Nimbus, sein Charisma verstärkt. Und zwar derart, dass man ihn am Ende als Showstar wahrnahm, der zusammen mit seiner Frau und Johannes B. Kerner in Afghanistan rumtalkte. Guttenberg hat eben stark auf Individualisierung und Popularisierung gesetzt – und im Moment des Skandals kippen solche Phänomene in Dämonisierung um. Daher die extreme Fallhöhe.

Er ist die Geister, die er gerufen hat, nicht mehr losgeworden?

Ja. Das scheint er auch verstanden zu haben, schließlich ist er in seiner Erklärung vor der Presse explizit auf die zerstörerischen Mechanismen des politischen und medialen Geschäfts eingegangen.

War er für die Geister des Glamours auch deshalb besonders anfällig, weil er aus dem alten Adel kommt?

In einer Republik wie der Bundesrepublik ist die Wahrnehmung des Adels ambivalent. Einerseits steht er für eine untergegangene Welt, in der Politik noch nicht bürokratisch und abstrakt war, in der man sie noch dingfest machen konnte an – in der romantisch verklärten Spielart – märchenhaften Prinzen und Königen. Das übt auf viele Menschen noch immer eine Faszination aus. Andererseits haftet dem Adel in einer aufgeklärten Republik auch etwas Operettenhaftes an ...

...das einen Adligen leichter als andere Menschen dazu verführen kann, mehr scheinen zu wollen, als er tatsächlich ist.

Man kann das so sehen: eine gleichsam sozial und kulturell bedingte Neigung des modernen Adels zu Schein und Täuschung. Aber ich warne doch davor, den Fall des Herrn zu Guttenberg als singulär zu betrachten, denn die gesamte Politik lebt von öffentlicher Inszenierung, von einer Politik des Als-ob. Das hat schon Machiavelli vor fünfhundert Jahren in seinem „Fürsten“ geschrieben: Nichts in der Politik ist notwendiger als der Schein. Ein Politiker muss also nicht religiös oder tugendhaft sein, aber er muss so tun, als ob.

In der Logik dieses Scheinverhaltens könnte doch aber auch die Erschleichung eines akademischen Titels ihren Platz finden?

Ja, klar. Wer sich damit abfindet, dass Politik ohnehin eine einzige Inszenierung ist, kann sich auch einen Doktortitel herbeiinszenieren. Darin würde eine gewisse Logik stecken, umso mehr, als der Titel hilft, den Charakter der Inszenierung zu verschleiern. Wer einen Doktor hat, suggeriert damit etwas wie wissenschaftliche Seriosität und dass er was Profundes zu sagen hat – und überdeckt damit die Tatsache, dass die Inszenierung, in der er mitspielt, längst von allen wirklichen Inhalten befreit ist.

Seite 3: Zelters "Ministerpräsident"

Satire

Für seinen Roman „Der Ministerpräsident“ hat Joachim Zelter viel Lob kassiert. Der Tübinger Autor stellt darin den Politikbetrieb als Inszenierung vor, deren einziges Ziel der Machterhalt ist: Weil die Wahl unmittelbar bevorsteht, wird der Ministerpräsident, der nach einem Unfall an Amnesie leidet, von seinem Medienberater wie eine Marionette ins Geschäft zurückgebracht. Die Satire, erschienen bei Klöpfer & Meyer, war im vergangenen Jahr für den Deutschen Buchpreis nominiert.

Doktor

Joachim Zelter wurde 1962 in Freiburg geboren und studierte in Tübingen Politikwissenschaft und Anglistik. Nachdem er in Anglistik auch promoviert hatte, erhielt er – als ehrbarer Doktor – einen Lehrauftrag für Deutsch an der Yale University, dann als Dozent für Neuere Englische Literatur in Tübingen. Seit 1997 arbeitet er freischaffend als Schriftsteller.