Teil des Programms der Jüdischen Kulturwochen sind Stadtrundfahrten über „Jüdisches Leben in Stuttgart“, in denen Persönlichkeiten und Schicksale vorgestellt werden – dabei war Stuttgart lange kein guter Boden für die Entwicklung jüdischen Lebens.

Lokales: Mathias Bury (ury)

Stuttgart - Lange Zeit war Stuttgart kein guter Boden für die Entwicklung jüdischen Lebens. Mögen die Verdienste des Grafen Eberhard im Barte für die Geschicke des Landes auch unumstritten sein: der erste Herzog von Württemberg, dem es 1482 gelang, die Landesteile Urach und Stuttgart zu vereinigen und der seine Residenz an den Nesenbach verlegte, war bekannt für seine Judenfeindschaft. Der für seine geistigen Fähigkeiten bewunderte Herrscher verfügte ein Niederlassungsverbot – mit Folgen für Jahrhunderte.

 

Erst Anfang des 19. Jahrhunderts, als die Beschränkungen gelockert wurden, habe es in Stuttgart einen Zuzug jüdischer Bürger gegeben, sagt der Historiker Roland Maier, aus jüdischen Landgemeinden der Umgebung. Diese Entwicklung erklärt, dass die Zahl der in Stuttgart lebenden jüdischen Bürger verglichen mit anderen Großstädten gering war. Im Jahr 1933, als die Nationalsozialisten die Macht übernahmen und begannen, das europäische Judentum auszulöschen, zählte man 4490 Menschen jüdischen Glaubens. „Es war eine kleine, unauffällige Minderheit, zum größten Teil sehr assimiliert“, erzählt Maier. Mit der Historikerin Sigrid Brüggemann bietet er bei den Jüdischen Kulturwochen zwei Stadtrundfahrten über „Jüdisches Leben in Stuttgart“ an.

Eduard Pfeiffer war Bankier und Sozialreformer

Eine in ihrer Großartigkeit einzigartige und dennoch exemplarische Persönlichkeit war Eduard Pfeiffer. Der Bankier, Genossenschaftler und Sozialreformer wurde 1835 als dreizehntes Kind des Hofbankiers Marx Pfeiffer geboren. Dieser hatte zu den ersten Juden überhaupt gehört, die in Stuttgart ein Wohnrecht erhielten.

Die Liste der Verdienste Eduard Pfeiffers ist lang. Der Ingenieur und Ökonom kam viel herum in Europa. Dort lernte er die elende Lage der Arbeiter kennen. Pfeiffer, der als erster jüdischer Bürger 1876 einen Sitz im Landtag erlangte, regte die erste nicht kommerzielle Arbeitsvermittlung in Deutschland an, gab den Anstoß für ein Arbeiterheim, stiftete ein Ledigenheim, finanzierte eine Säuglingsheilanstalt und war Mitgründer dreier Badeanstalten.

1866 gründete er den „Verein für das Wohl der arbeitenden Klassen“ zur Beschaffung von Wohnraum, dessen Tätigkeit er weitgehend selbst finanzierte. Das größte Bauprojekt des Vereins war von 1891 bis 1895 die Kolonie Ostheim mit 383 Häusern und 1267 Wohnungen. Dabei entstanden keine tristen Mietskasernen, sondern kleinere Häuser im bürgerlichen Stil mit Gartenstückchen. „Eduard Pfeiffer ist ein Paradebeispiel für die Haltung des emanzipierten jüdischen Bürgertums im 19.  Jahrhundert, das ein Gefühl sozialer Verantwortung hatte“, sagt Sigrid Brüggemann. „Das war auch bei vielen Großbürgern stark ausgeprägt.“ Eduard Pfeiffer, einer der reichsten Bürger Württembergs, vermachte sein Vermögen einer Stiftung, die bis heute tätig ist.

Viele Unternehmer unter den jüdischen Bürgern

Unter den jüdischen Bürgern, deren Familien sich in Stuttgart niederließen, waren viele Unternehmer insbesondere der Textilbranche, Kaufleute, Ärzte, Rechtsanwälte und Künstler. Typisch für junge jüdische Frauen war, dass sie Krankenschwester lernten. Ein Beispiel für das Schicksal eines jüdischen Arztes ist das Leben von Jakob Holzinger und seiner Frau Selma. Er lebte und praktizierte in der Landhausstraße 181 direkt am Ostendplatz. Holzinger hatte als Offizier im Ersten Weltkrieg gedient, und er dürfte ähnlich patriotisch gesinnt und stolz darauf gewesen sein wie viele seiner jüdischen Zeitgenossen. Der Arzt hatte „eine sehr soziale Ader“, erzählt Sigrid Brüggemann. So habe Holzinger mittellose Patienten während der Weltwirtschaftskrise umsonst behandelt. „Er war im Viertel sehr beliebt.“ Als die Umtriebe der Nazis in den 30er Jahren zunahmen, schickten die Holzingers ihre Kinder Rudolf und Hermine nach Frankreich, sie selbst konnten sich eine Ausreise nicht vorstellen. Als Jakob Holzinger nach dem Novemberpogrom 1938 die Approbation verlor und im Konzentrationslager Dachau interniert wurde, wusste er, was ihm bevorstand, auch wenn er als Weltkriegsoffizier nach zwei Wochen wieder entlassen wurde. Anfang November 1940 hat sich das verzweifelte und verarmte Ehepaar das Leben genommen.

Dabei hatten Juden nach ihrer Gleichstellung 1864 auch in Württemberg allen Grund zur Hoffnung. So war es Joseph Maier, dem ersten Rabbiner der jüdischen Gemeinde in Stuttgart, gelungen, eine Landesorganisation für die Israelitische Religionsgemeinschaft aufzubauen. Diese wurde „zur dritten Landeskirche in Württemberg“, sagt Sigrid Brüggemann. Der „liberale und sehr aufgeklärte“ Josef Maier, aus ärmlichen Verhältnissen im Hohenlohischen stammend, wurde Landesbeamter mit dem Titel eines Kirchenrats.

Als eigene soziale Gruppe hätten sich die jüdischen Bürger hier nicht gefühlt, betont Roland Maier. Dazu haben sie erst die Antisemiten gemacht, deren Treiben Anfang des 20. Jahrhunderts anhob.