Offenbar hat ein einzelner Jugendamtsmitarbeiter die Rückkehr des Jungen in die Familie veranlasst. Die Behörde verteidigt ihr Vorgehen. Am 11. März will der Kreistag bekannt geben, wer zur Expertenkommission gehören soll, die die Ereignisse aufklärt.

Baden-Württemberg: Heinz Siebold (sie)

Lenzkirch - Knapp zwei Monate nach dem gewaltsamen Tod des dreijährigen Alessio aus Lenzkirch ist die Rolle des Jugendamtes im Landkreis Breisgau-Hochschwarzwald nicht eindeutig aufgeklärt. Sowohl die Landrätin Dorothea Störr-Ritter (CDU), als auch die Sozialdezernentin Eva-Maria Münzer stehen unbeirrt auf dem Standpunkt, die Behörde habe alles richtig gemacht. Darin sehen sie sich von einem Prüfbericht des Regierungspräsidiums Freiburg bestätigt, der Mitte Februar an das Ministerium für Arbeit und Sozialordnung in Baden-Württemberg gegangen ist. Über daraufhin erschienene Schlagzeilen wie „Aufsichtsbehörde entlastet Jugendamt“ ist das Ministerium von Katrin Altpeter (SPD) jedoch „nicht glücklich“, räumt Sprecher Helmut Zorell freimütig ein. „Der Eindruck, es sei alles in Butter“ gebe nicht wieder, was in dem nicht veröffentlichten Bericht steht. In Wirklichkeit habe das Regierungspräsidium akribisch alle heiklen Stellen „im Graubereich zwischen rechtlichen und fachlichen Fragen“ aufgelistet und diese müssten noch gründlich aufgearbeitet werden.

 

Die Klinik hatte eine Rückkehr des Jungen in die Familie ausgeschlossen

Dazu gehört vor allem die Schlüsselsituation, als nach dem zweiten Aufenthalt des Dreijährigen in der Freiburger Kinderklinik im Sommer 2014 schwerste Misshandlungen diagnostiziert, die Klinik Strafanzeige gestellt und eine Rückgabe des Jungen in die komplizierte Familie ausgeschlossen hatte. Mutter und Sohn wohnten daraufhin zeitweise bei der Großmutter des Stiefvaters. Doch sechs Tage, nachdem die Staatsanwaltschaft Freiburg das Ermittlungsverfahren eingestellt hatte, kippte ein Mitarbeiter des Jugendamtes das in Gang gesetzte Kinderschutzprogramm und ignorierte auch den Hinweis der Staatsanwaltschaft auf „dringenden“ Schutzbedarf.

An diesem Tag, am 14. Oktober 2014, sprachen Mutter und Stiefvater von Alessio beim Jugendamt vor, beide hatten Rechtsanwälte dabei. Nach einem Artikel der „Badischen Zeitung“ vom 25. Februar bedrängte vor allem der Stiefvater den Mitarbeiter des Amtes. Seine Großmutter sei überfordert, sie habe einen Kreislaufzusammenbruch erlitten. Mutter und Stiefvater beteuerten, „kooperationsbereit“ zu sein, lehnten jedoch die Durchführung eines „Familienrats“ und die Fortsetzung der „Sozialpädagogischen Familienhilfe“ ab.

Gleichwohl knickte unter dem Eindruck anwaltlichen Flankenschutzes der Mitarbeiter des Amtes ein und schrieb laut „Badischer Zeitung“ ins Protokoll „Vor diesem Hintergrund kann eine Rückführung von Frau N. und ihren beiden Kindern in den Haushalt von Herrn T. schon heute erfolgen.“ Mehr noch: „Die Umgangskontakte können ab sofort ohne weitere Aufsicht gestaltet werden.“ Lediglich regelmäßige Arztbesuche und eine Familientherapie ab dem folgenden Jahr wurden verlangt, und es wurde eine Dorfhelferin angefordert – die Cousine des Stiefvaters kam.

Die Kreisrätin glaubte bisher, ein Dreierteam habe entschieden

Dass ein Einzelner die Rückkehr des Jungen zum gewalttätigen Stiefvater veranlasst hat, war bisher nicht bekannt. „Das hat mich schockiert, ich fühle mich über den Tisch gezogen“, kommentiert die SPD-Kreisrätin Ellen Brinkmann diese Notiz. „Mir wurde vom Landratsamt immer gesagt, dies sei die Entscheidung eines Dreierteams.“ Doch die Behörde beharrt auf ihrer Version. Der Mitarbeiter habe lediglich mitgeteilt, was das Team bereits vorher diskutiert und einen Tag später erneut sanktioniert habe. Es gebe keine neue Sachlage, sagt ein Sprecher des Landratsamts auf Anfrage. Doch ob es zuvor eine regelrechte Entscheidung gegeben hat, bleibt umstritten. Nach Informationen der StZ wird auch im Prüfbericht des Regierungspräsidiums bemängelt, dass die Information der Fachgruppenleitung unterblieben ist. Und die vorab erwogenen „Ideen“ der sogenannten Intervisionsgruppe decken sich nicht in allen Punkten mit den weitreichenden Entscheidungen des Mitarbeiters am 14. Oktober.

Das Arbeits- und Sozialministerium wartet immer noch auf Antworten aus Freiburg. Auch auf die Frage, warum es „keine Auseinandersetzung mit den Gründen des Scheiterns der früheren Maßnahmen gegeben hat“, sagt Sprecher Zorell. Alessio war bereits ein Jahr zuvor in der Freiburger Klinik und die Warnungen der Kinderärzte wurden wohl im Jugendamt gering geschätzt.

Die Staatsanwaltschaft muss sich mit acht Anzeigen befassen

Das Landratsamt will am 11. März in einer Sondersitzung des Kreistags die Mitglieder der angekündigten Expertenkommission bekannt geben. „Es sollte mal endlich jemand zu seinen Fehlern stehen“, verlangt Kreisrätin Brinkmann. Denn schließlich ist der Junge am 16. Januar totgeschlagen worden. Aller Wahrscheinlichkeit nach vom Stiefvater. Nach Auffassung der Staatsanwaltschaft spricht nichts für seine Behauptung, Alessio sei die Treppe hinunter gefallen. Das Verfahren gegen den Mann ist vordringlich, zugleich muss sich die Staatsanwaltschaft mit acht weiteren Anzeigen befassen. Sie richten sich gegen die Landrätin, die Sozialdezernentin – und gegen die Staatsanwaltschaft, der vorgeworfen wird, das Verfahren gegen den späteren mutmaßlichen Täter zu früh eingestellt zu haben.