Sie nennen sich Kastanie eins und bauen pädagogisch wertvolle Computerspiele sowie Websites. Das junge Team besetzt damit eine virtuelle Nische.

Aus den Stadtteilen: Kathrin Wesely (kay)

S-West - Der Westen hat den Ruf weg, ein Biotop für junge kreative Menschen zu sein, die hier ihre Werkstätten, Ateliers, Lädchen oder Cafés eröffnen und die passende Kundschaft dazu finden. Aber es gibt im Stadtbezirk auch zahlreiche Start-ups, die nahezu unsichtbar wirken. Viele in dieser Szene sind Absolventen der Hochschule der Medien. Sie beziehen im Westen ein Büro und besetzen von dort aus eine wirtschaftliche Nische im weltweiten Netz. Eine Reihe von Start-Ups finden sich beispielsweise auf dem ehemaligen Waldbaur-Gelände am Feuersee. Auch im Kräherwald gibt’s ein Nest: die Wielandstraße 14. Das knallrote Wohnhaus beherbergt Filmleute, Grafiker, eine Schmuckdesignerin und Kastanie eins.

 

Wie lange ist man Start-Up?

„Immer wenn wir im Herbst auf der Alb spazieren gegangen sind, sagte mein Vater: ‚Die erste Kastanie, die ihr findet, müsst ihr in der Tasche behalten. Sie bringt Glück fürs ganze nächste Jahr‘“, erklärt Timo Strohmaier. Als er sich mit Clemens Petzold zu einem Dienstleistungsunternehmen für Online-Spiele und interaktive Konzepte zusammenschloss, haben sie den herbstlichen Glücksbringer gewissermaßen zum Firmenemblem erkoren.

Die glücksbringende Wirkung der Kastanie hat auch nach eineinhalb Jahren nicht nachgelassen. Allerdings, räumt Strohmaier ein, habe sie zwischendrin mal Urlaub genommen, wodurch das Duo in eine geschäftliche Flaute geriet. Die ist inzwischen durchschippert und die beiden konnten sogar jemand Neues ins Team aufnehmen, Julia Eppler, zuständig für Konzeption, Design, Frontendentwicklung.

„Wie lange darf man sich eigentlich Start-Up nennen?“, überlegt Strohmaier, während er durch die Liste zurückliegender Projekte scrollt. Kerngeschäft ist es, abstrakte Inhalte anschaulich zu verpacken. Die demokratischen Grundregeln werden da zum Kinderspiel, gefragte Fachkräfte klicken sich schnell zum Job und Kinder lernen den Umgang mit Medien im Adventure-Game. Das Projekt „Change City“ etwa ist eine Auftragsarbeit für die Landeskoordination Baden-Württemberg von „Schule ohne Rassismus - Schule mit Courage“ und das Landeskriminalamt.

Seit zwei Jahren arbeiten Petzold und Strohmaier an diesem sogenannten Serious Game gegen Menschenfeindlichkeit. Es soll demnächst an Schulen zum Einsatz kommen. Die Spieler müssen eine Stadt erbauen und stoßen dabei auf diverse Konflikte. So soll beispielsweise eine Moschee errichtet werden, wogegen sich Protest regt. Im Spiel haben die Schüler unterschiedliche Möglichkeiten, darauf zu reagieren, und erlernen Argumentationsmuster, die ihnen in der Diskussion mit den Gegnern weiterhelfen. „Wir werden überall von menschenfeindlichen Parolen überfahren – seit der Flüchtlingskrise sowieso“, sagt Strohmaier. Da sei es gut, seine Argumente aus dem Effeff zu können, um schlagfertig zu reagieren. Die Schwierigkeit dabei sei, „möglichst realistische Situationen zu erfinden und die Konflikte nicht zu sehr zu trivialisieren“, erklärt Petzold. Das Spiel verliere sonst an Überzeugungskraft.

Flugblätter wegklicken

Den ersten Entwürfen ging deshalb auch eine Art Evaluierung voraus: Die beiden Experten für elektronische Medien setzten sich mit Kindern und Jugendlichen zusammen, um herauszufinden, welche Themen bei diesen vordringlich sind. „Bei der Entwicklung von interaktiven Produkten liegt es uns am Herzen, Nutzer bereits bei der Entwicklung des Designs mit einzubeziehen. Diese Methodik ist das partizipative Design“, erläutern die Kastanie-Chefs. „So fließen Vorstellungen, mentale Modelle und altersgerechte Metaphern in die Produkte ein.“ Das gelte insbesondere bei Serious Games für Kinder und Jugendliche. Beim partizipativen Design zu „Change City“ haben die beiden übrigens herausgefunden, dass nicht etwa Rassismus, sondern die Themen Mobbing und Homophobie die Hauptrolle spielen. „Das hat uns etwas überrascht“, sagt Strohmaier.

Wichtig sei auch die Einbettung von „Change City“ in ein umfassenderes pädagogisches Konzept. „So ein Spiel ist keine Allheilwaffe, mit der sich angehende Salafisten und Rassisten kurieren lassen“, räumt Strohmaier ein. „Das Spiel ist mehr so ein Kopföffner, es zeigt unterschiedlich Denkweisen und Reaktionsmöglichkeiten auf.“ Die spielerischen Mittel sind Multiple-Choice-Aufgaben, das Gestalten von Avataren, Punkte sammeln oder klassische Ballertaktik – zum Beispiel in Form von Wegklicken rechter Flugblätter, die ein Neonazi vorm Fußballstadion verteilt hat.

Die beide Kastanienchefs sind überzeugt, dass Online-Konzepte dieser Art künftig immer häufiger nachgefragt werden. Sie meinen, dass pädagogische Inhalte für diejenigen Medien aufbereitet werden müssen, die die Kinder am liebsten nutzen: Smartphone und Tablet. „Wir könnten uns vielleicht mal vergrößern“, denkt Strohmaier laut. Start-Up kann sich die Kastanie eins dann aber nicht mehr nennen.