Zum 100. Todestag des genialen, aber auch etwas verrückten Dichters Karl May erinnern sich StZ-Redakteure: Wie hat Winnetou mein Leben verändert?

Stuttgart - Es gibt Fragen, die werden wir auch aus Anlass des heutigen Karl-May-Gedenktages nicht endgültig klären können. War der Sachse ein großer Menschenfreund? Oder ein Rassist? Oder im Innersten seines Herzens ein katholischer Theologe? All das und noch viel mehr halten die Experten für möglich. Lassen wir darum lieber die Kollegen aus der StZ-Redaktion ganz persönlich werden: „Mein liebstes Stück von Karl May“ heißt das Motto dieser Seite. Eingeladen zur Teilnahme waren übrigens ausdrücklich auch die Kolleginnen. Geschrieben hat aber keine einzige. Karl May ist eben doch – Männersache.

 

Winnetou im DDR-Kino

Gelesen habe ich Karl May nie. Aber ich bin unzählige Male mit Stewart Granger unter Geiern gewesen, habe mit Lex Barker und Pierre Brice den Schatz im Silbersee gesucht oder fand mich mit Ralf Wolter alias Sam Hawkens an den Marterpfahl gefesselt. Stets gab es zuvor nur zwei Hürden: die Erlaubnis eines Erziehungsberechtigten einholen und ihm fünfzig Pfennig abluchsen. Letztere musste ein Kind in den achtziger Jahren an der Kinokasse zahlen, um in der DDR-Provinz Thüringens in die Welt Winnetous und Old Shatterhands einzutauchen.

Dass sich die Heimat damals bereits mitten im wirtschaftlichen Niedergang befand, hatte aus dieser Perspektive sogar Vorzüge. Zum einen wurden die Filme, die im Westen schon in den Sechzigern auf der Kinoleinwand flimmerten, hier noch zwanzig Jahre später gezeigt. Und dies mangels großer Konkurrenz sogar in ständiger Wiederholung. So ritt ich ein ums andere Mal mit dem Häuptling der Apachen durch die jugoslawische Prärie. Und wirklich tot ist Winnetou für mich bis heute nicht. (Thomas Thieme, StZ-Politik) Thomas Thieme, Politikressort

Ganz schön schwere Waffen

Bei Licht betrachtet war Karl May seiner Zeit um Jahrzehnte voraus: eine Waffe mit sehr kleinem Kaliber und sehr hohem taktischen Nutzen, das war der Henrystutzen, das berühmteste Gewehr des Westens, ach was, der ganzen Welt. 25-mal schießen, ohne nachzuladen, da wurden nicht nur die Schurken neidisch.

Herzstück des Henrystutzens ist eine aus einem „polygonen Eisenstück“ gefeilte Kugel mit 25 Löchern für ebenso viele Patronen, „bei jedem Schusse rückt die Kugel weiter, die nächste Patrone an den Lauf“. Wer als Knabe mit dieser Beschreibung aus „Winnetou I“ nicht klarkam, wird sich als Erwachsener erst recht keinen Reim drauf machen können. May, sonst bekanntermaßen ein Freund der Fakten, hat sich das Wundersystem schlicht ausgedacht. Wahrscheinlich aus dramaturgischen Gründen, um sein unbesiegbares Alter Ego Old Shatterhand noch unbesiegbarer zu machen. Aus diesen Gründen musste der arme Held – der doch eigentlich schon mit einem einfachen „Jagdhieb“ Remedur schaffen konnte – auch zwei Schießprügel durch die Pampa schleppen: drei Kilo Stutzen, fünf Kilo Bärentöter, dazu zwei Revolver und Munition. Ein anderer hätte da Malheur mit den Bandscheiben gekriegt. O Henry! O Henry! Hans Jörg Wangner, Lokalressort (Hans Jörg Wangner, StZ-Lokalressort)

In Bad Segeberg in der letzten Reihe

Plön und Travemünde hatte der Junge gesehen, Strandkörbe und Fischerboote. Ohne Mama und Papa. Jugendfreizeit an der Ostsee. Ausgestattet war er mit einer neuen Kamera, die das Beste der Reise den Daheimgebliebenen nahebringen sollte. Wir sprechen von einer Zeit, in der die Firma Kodak völlig undigitaler Marktführer war und mit dem Werbespruch „Ritsch Ratsch Klick“ die Bedienung ihres Fotoapparates anpries.

Der Knirps hat dann zu Hause tatsächlich ein paar Bilder von Strandkörben und Fischerbooten zeigen können, vielleicht fünf oder sechs. Doch dann landeten die wahren Schätze auf dem Küchentisch. Bilder mit Winnetou links, Old Shatterhand rechts, das Ganze noch anders herum, mal mit, mal ohne Pferd. Der Apachenhäuptling im Kampf mit einem, mit zwei und mit drei Banditen, sein weißer Bruder mit Henrystutzen in der linken, ein anderes Mal in der rechten Hand. Es war ein einziger Nachmittag, der gleich drei Filmkassetten verschlungen hat, 36er, wohlgemerkt. Es war der Nachmittag in Bad Segeberg. Der Nachmittag bei den Karl-May-Spielen.

Dumm nur: Ritsch Ratsch Klick und Oberrang vertragen sich nicht sonderlich gut. Ohne sehr intensive Erklärungen der Handlung waren die Personen auf den Zelluloidabzügen kaum als edler Held oder fieser Gauner zu identifizieren. Aber gute Eltern sind mit ihrem Nachwuchs stets geduldig. Christian Gottschalk, Politikressort (Christian Gottschalk, StZ-Politik)

Winnetou schießt besser als Magdalena Neuner

Wir wissen nicht, ob Magdalena Neuner im Biathlon-Ruhestand künftig Winnetou-Filme anschauen wird. Aber auch auf einer Karl-May-Jubiläumsseite lohnt es sich, an die Fähigkeiten der Ausnahmesportlerin zu erinnern: Da stand sie doch so oft beim Schießen, ein Auge zu, das andere weit geöffnet, und musste einen winzigen Kreis mit einem Durchmesser von 11,5 Zentimetern treffen, bei einer Entfernung von 50 Metern. So weit die Fakten.

Der gute alte Winnetou lacht sich da gepflegt ins Fäustchen. Auf Zuruf seines Kumpels Old Shatterhand („Pass auf, Bruder!“), dreht er sich blitzschnell um und donnert mit seiner Silberbüchse aus der Hüfte (!) einen Mann in 600 Meter Entfernung um. Der steht auf einem Berg, von dem er nach dem Volltreffer ins Herz spektakulär hinunterpurzelt.

Ohne den Blick durch Kimme und Korn ist das unmöglich. Doch aufgewachsen in der Welt von „Raumschiff Enterprise“ („Beam me up, Scotty“) und „Lassie“ (ein Hund mit Intelligenzquotient 140) haben wir Winnetous realitätsferne Schusstechnik immer augenzwinkernd akzeptiert. Geht nicht, gibt’s nicht, mein Blutsbruder! (Dominik Ignée, StZ-Sport) Dominik Ignée, Sportressort

Rache für Nscho-tschi!

Wenn man einen Menschen bewundert, verzeiht man ihm alles. Fast alles. Denn dass Mario Adorf Nscho-tschi erschossen hat, verzeihen wir ihm nie.

Nscho-tschi hat sich mit Winnetou auf den Weg zum Nugget-tsil gemacht, um den Apachenschatz zu bergen. Mit dem Geld will sie sich in St. Louis christlich erziehen lassen. Doch Nscho-tschi und ihr Bruder geraten in einen Hinterhalt. Ein gewisser Santer lauert mit seiner Bande dem Paar auf. Das linke Auge zugekniffen, mit dem rechten sein Opfer aufs Korn nehmend, legt er die Büchse an – und drückt ab. Und Nscho-tschi fällt: der Sturz eines Engels.

Adorf, du fieser Santer! Wie kannst du nur! Dein Bart ist schwarz, deine Augen sind finster, dein Blick ist verschlagen. Ein Teufel wie du muss Rache fürchten. Und du bleibst, vor den Apachen fliehend, an einer Felsklippe hängen. Verzweifelt krallen sich deine Finger in den Stein. Hundert Meter tiefer rammen die Indianer ihre Speere mit der Spitze nach oben in den Boden. Und dann geht alles sehr schnell. Du stürzt. Das Filmbild kippt weg, nur der Tonspur bist du jetzt noch ein trockenes, armseliges Ratsch-tschuck wert. Wir sind zufrieden. Nscho-tschi, lieber Mario, hättest du nie erschießen dürfen! Roland Müller, Kulturressort (Roland Müller, StZ-Kultur)

Spätes Erwachsen

Bitte keine Fragen nach den Hausaufgaben, bitte keine Aufforderung zu Botengängen, nein, nein, bitte nicht jetzt! Ich wollte damals, als Kind, doch nicht herausgerissen werden aus dieser Welt der großen Abenteuer, in die ich mich nicht hineingelesen hatte, von der ich vielmehr verschluckt, verschlungen wurde. „Winnetou I“ von Karl May! Das war ja alles ein Fieberrausch, das delirierte vor sich hin, als hätte ich es mir selber erträumt. Eine sensationelle Einmannshow, in welcher der Held Old Shatterhand, in der also Ich, Ich, Ich der Stärkste, der Tapferste, der Gescheiteste bin. Der Bescheidenste noch dazu: „Ich bin nie ein Mensch gewesen, der um des Lobes willen etwas tut.“ Ach, und dieses ständige Flüchten, Verfolgen, Beschleichen: Nie löst es sich ganz auf, immer hinterlässt es ein Gefühl von nachtschwarzer Unendlichkeit.

Irgendwann aber wollte mein Kurzschluss mit Karl Mays Hirn nicht mehr gelingen, folgte also die Vertreibung aus den „dark and bloody grounds“. Doch, ich habe es als Erwachsener noch mal versucht, bin aber nicht mehr hineingekommen in diesen Old Shatterhand, habe nur noch neben ihm hergelesen. Meine Güte, diese redselige Redlichkeit, dieses frömmelnd Selbstgerechte! Wer sich seinen Karl May bewahren will, der sollte ihn eben in Frieden lassen. Rupert Koppold, StZ-Film- und Buchkritiker(Rupert Koppold, StZ-Film- und Buchkritiker)

Es gab auch Alternativen zu Karl May

Er war der Held meiner Kindheit. Wie schlau er die Gefahren der Wildnis meisterte, wie unbeirrbar er für seinen Stamm kämpfte. Unbedingt wollte ich als kleiner Junge werden – nein, nicht wie Winnetou, sondern wie Häuptling Tokei-ihto. Denn die DDR hatte als Alternative ihren eigenen Oberindiander: Tokei-ihto vom Stamme der Dakota. Er ist die Hauptfigur in Liselotte Welskopf-Henrichs Romanreihe „Die Söhne der Großen Bärin“. In sechs Bänden schildert sie seine Lebensgeschichte, vom Indianerjungen bis zum Häuptling. Natürlich schaute ich mir auch den gleichnamigen Defa-Film an. Der junge, drahtige Gojko Mitic als Tokei-ihto: so hatte ich mir meinen Helden vorgestellt!

Nach der Wende musste ich erfahren, dass noch ein anderer Indianer durch die Prärie geritten ist, ein gewisser Winnetou. Mit dem Bus ging es nach Bad Segeberg zur Vorstellung von „Der Schatz im Silbersee“. Doch als ich diesen Winnetou zum ersten Mal sah, brach für mich eine Welt zusammen: Der alte, faltige Gojko Mitic spielte dort den Häuptling der Apachen. Nein, Winnetou und ich kamen nie auf einen grünen Zweig. Mit Liselotte Welskopf-Henrich kann Karl May nicht mithalten. Johannes Scharnbeck, Sportressort (Johannes Scharnbeck, StZ-Sport)

Blutsbrüder teilen auch Preisgelder

Es war beinahe eine Seelenverwandtschaft, wie sie im Karl-May-Buche steht. Wir hatten denselben Vornamen, waren altersmäßig nur 20 Tage auseinander und lebten gemeinsam unsere Leidenschaft für den Wilden Westen aus. Das stand nie in Frage: Er war Winnetou, ich Old Shatterhand. So pirschten wir durch Schrebergärten und über düstere Friedhöfe. Wir ritzten uns die Haut auf und schlossen feierlich Blutsbrüderschaft. Wir verbrachten Sommernächte im Wigwam hinterm Elternhaus und vergruben den Schatz nicht im Silbersee, aber unterm Obstbaum.

Karl May war die Standardlektüre. Das oft nächtens angelesene Wissen half bei einem Quiz vor großem Publikum auf dem Alten Markt. Nach der ersten richtigen Antwort zog auf der Bühne der Winnetou-Darsteller meinen Blutsbruder zur Endausscheidung nach vorn, wo er mühelos gewann. Und wie es sich für den edlen Apachen-Häuptling geziemt, beteiligte er seinen „Scharlih“ am Geldgewinn von 100 Mark. Nach der Schulzeit verloren wir uns aus den Augen. Es war eben nur beinahe eine unverbrüchliche Verbindung wie bei Karl May. (Matthias Schiermeyer, StZ-Politik) Matthias Schiermeyer, Politikressort