Kultur: Stefan Kister (kir)

Ganz ist der Verdacht nicht aus der Welt, den ein Schriftstellerkollege bei der Begegnung während eines Festes in die Welt posaunt: „Da haben wir ja auch Knausgard! Er ist schön, kann aber echt nicht schreiben.“ Niemand freilich wäre von der eigenen Unfähigkeit leichter zu überzeugen als der Autor selbst.

 

Ein Teil des besagten Soges erklärt sich sicher durch die Genugtuung des Voyeurs, der sich zufrieden zurücklehnt, wenn er feststellt, dass im Nachbarhaus auch nur mit Wasser gekocht wird. Es ist die Lust, in einem fremden Leben herumzuschnüffeln. Wie sieht es bei anderen aus, wenn sie nicht wagen, einem Mädchen im entscheidenden Moment das Richtige zu sagen? Wenn man sich nicht aus dem Haus traut, weil man keine Freunde hat und die Einsamkeit das Letzte ist, das einen noch bezeugt?

Seelenforscher der Popkultur

Spätere Literaturhistoriker werden einmal die Wirkung von Knausgards monumentalem Selbstporträt in Zusammenhang setzen mit dem Selbstbespiegelungswahn der Generation Selfie. Und doch gründet sein Bekenntniswerk viel tiefer als in dem Morast, den die Seifenlauge zeitgemäßer Reality-Formate wässert. Denn nicht aus Egozentrik oder Selbstgefälligkeit zieht dieser sich selbst gegenüber so unduldsame Autor jede noch so dunkle seiner Regungen ans Licht, sondern um der Erlösung willen. Das Offenlegen der eigenen Schlechtigkeit, der Wunsch, Rechenschaft abzulegen, führt zurück an einen Punkt, an dem sich einmal der psychologische Roman religiöser Biografik entschält hat. Knausgard überführt die Tradition der protestantischen Seelenerforschung in die Popkultur. Absolution erteilt hier nicht der Pfarrer, sondern der Leser.

Nichts wünscht sich der junge Karl Ove so sehr, als einmal von der gewaltigen Komplexität erzählen zu können, die ein Mensch ist und von der wir gewöhnlich so wenig wahrnehmen, wenn wir ihn sehen. Knausgard ist dieser Wunsch in Erfüllung gegangen. Seine radikale Konzentration auf das Tatsächliche liegt nicht vor, sondern hinter all dem, was dem modernen Roman Gestalt verliehen hat. Dessen Formexperimente zielen darauf ab, den Schein zu durchdringen, das Wesentliche zu erreichen, die Übereinstimmung von Welt und Worten zu sichern. Vieles davon erscheint nach der Lektüre dieses Werks nurmehr als haltlose ästhetische Spielerei. Knausgard mag ein schlechter Autor sein, aber sein Ringen darum zählt zum Besten, was die zeitgenössische Literatur zu bieten hat. Sollte dieses paradoxe Urteil etwa ein Indiz für die eingangs erwähnte Sucht sein? Ach egal, Hauptsache, der nächste Band kommt bald.