Keith Richards, der Gitarrist der Rolling Stones, legt seine in jeder Hinsicht pralle Autobiografie "Life" vor.

Kultur: Jan Ulrich Welke (juw)
Stuttgart - Ginge es nach der herrschenden medizinischen Lehrmeinung, dürfte es dieses Buch nicht geben. Die Tanklastzüge voller Schnaps, die Keith Richards durch seine Kehle gluckern ließ, die ganzen Mohnfelder und Tabakplantagen, die der Kettenraucher und langjährige Heroinist quasi im Alleingang abgeerntet hat, die Säcke voller Koks, Gras und Pillen, die er sich einverleibt hat, die Versehrungen durch den Sturz von einer Leiter in seiner eigenen Bibliothek und einer Kokospalme, von der er auf den Fidschi-Inseln angeblich heruntersegelte: sie hätten ihm längst den Garaus machen müssen. Der Mann, der in anderthalb Monaten 67 Jahre alt wird, muss hohlraumkonserviert sein und darf als anatomisches Wunder gelten.

Jahrelang führte Richards im britischen Fachblatt "New Musical Express" die Liste jener Musiker an, die mutmaßlich als nächste dran glauben müssen. Doch der – wie er selbst tiefstapelnd sagt – "Rhytmusgitarrist einer Band" verdankt einen Teil seiner fast schon ikonenhaften Verehrung eben auch dem Umstand, dass er im Gegensatz zu Jimi Hendrix, Jim Morrisson, Janis Joplin oder seinem Bandkumpanen Brian Jones nicht nur ein Überlebender ist.Er ist einer aus der Riege der Unantastbaren.

Drogen, Suff, exzessive Schonungslosigkeit, zwischenzeitlich schlief er voller Paranoia sogar mit einer Knarre unter dem Kopfkissen: Keith Richards hat ein umnebeltes Rock’n’Roll-Leben in Reinkultur geführt. Wenn er jetzt also seine Memoiren vorlegt, bekommt dieses Wort eine erfrischend neue Konnotation.

Die Drogeneskapaden häufen sich


Im Gegensatz zu Mick Jagger, der vor Jahren an dem Versuch scheiterte, sich noch an irgendetwas zu erinnern und schließlich entnervt seinen Vorschuss für die Autobiografie zurückzahlte, hat Keith Richards mit seinen (gemeinsam mit dem Journalisten James Fox verfassten) Lebenserinnerungen nämlich ganze Arbeit geleistet.

Auf 736 Seiten erzählt er nun in seniorenfreundlichem Großdruck ausführlichst, bisweilen sogar ausschweifend die schönsten Stories eines prallgefüllten Daseins, sodass es einer gewissen Ironie nicht entbehrt, wenn er in langen Betrachtungen über Brian Jones ausgerechnet seinem früh verstoßenen und kurz darauf gestorbenen Bandkollegen den Vorwurf des ungebremsten Mitteilungsdrangs macht.

"Life" erzählt nicht durchgehend in chronologischer Reihenfolge, das erste Kapitel beginnt – wie auch sonst – mit einer Drogeneskapade, die Richards 1975 vor ein Redneck-Gericht in Arkansas brachte. Überhaupt füllt dieses Buch ein solches Maß an Drogengeschichten und absonderlichen Begebenheiten aus dem Licht- und Schattenreich, dass die Baudelaires, Burroughs’ und Kerouacs dieser Welt wie Waisenknaben wirken.

Die Asche des verstorbenen Vaters geschnupft?


Richards findet aber auch ernste Worte. Er schildert seine Kindheit im Bombenkrieg, die er neben seinem robusten Immunsystem für seine Widerstandskraft verantwortlich macht. Er schreibt über die Manager, die nicht durch die Bank das Vermögen der Stones mehrten. Über die Fluchten nach Marokko (aus Angst vor der Justiz) und Frankreich (aus Angst vor der Steuerfahndung). Und vor allem, in vielen nachdenklichen Passagen, spricht er über das Verhältnis zu Mick Jagger, dem anderen Alphatier in der bedeutendsten Band der Welt. Die Jugendfreunde, erfährt man, verbindet heute wenig mehr als ein Geschäftsverhältnis.

Dazu kommt bislang Unerhörtes, die Entstehungsgeschichte von "Satisfaction" etwa, das ihm fast buchstäblich im Schlaf einfiel, wie er am nächsten Morgen beim Abhören des Kassettenrekorders feststellte, der neben seinem Bett lag. Oder dass Richards historische Sachbücher schätzt, ein Hundenarr ist und gerne kocht ("in der Regel Würstchen mit Kartoffelbrei") – das Rezept liefert er gleich mit.