Familie/Bildung/Soziales: Lisa Welzhofer (wel)
Was genau ist ein Trauma?
Wenn etwas geschieht, das meine normalen Bewältigungsfähigkeiten übersteigt, ist das, als explodiere eine Handgranate im Gehirn. Ich bin zunächst davon befreit, aber die Splitter werden mich von nun an schmerzen, wann immer sie wollen. Das sind die sogenannten posttraumatischen Belastungsstörungen, zum Beispiel Angstzustände, Schlaflosigkeit, Depressionen.
Hatten Sie selbst auch solche Symptome?
Ja, zum ersten Mal im Alter von etwa acht bis zehn Jahren. Ich fühlte mich fremd im eigenen Körper, hatte unter anderem Depressionen, Probleme, mich zu konzentrieren. Ich konnte mich niemandem anvertrauen und hatte immer panische Angst, in einer Psychiatrie zu landen. Diese Angst blieb bis kurz nach dem Abitur, das ich in Schorndorf gemacht habe.
Was änderte sich dann?
Weil sich bei mir immer wieder die Muskulatur verkrampfte – auch eine Traumafolge –, hat mich mein Hausarzt mit Verdacht auf multiple Sklerose zu einem Spezialisten nach Stuttgart geschickt. Der Arzt sagte zu mir: „Sie brauchen eine Therapie, sonst nichts!“ Im Institut für Psychotherapie hat man mir einen Psychoanalytiker vermittelt, einen Kriegsblinden. Das war genau der Richtige, besser konnte mich niemand verstehen! Ich habe bei ihm eine langjährige Therapie gemacht. Am Ende sagte er, dass ich mich gut zum Therapeuten eignen würde. So begann meine Laufbahn.
Heißt das, sämtliche Flüchtlingskinder bräuchten im Grunde eine Therapie?
Nein. Es gibt Menschen mit erstaunlicher Widerstandskraft, die solche Fluchterlebnisse gut überstehen. Aber es ist wichtig herauszufinden, wer Hilfe benötigt – und wer nicht. Unsere Lehrer bräuchten zum Beispiel eine Ausbildung in Traumalehre, damit sie auf Symptome reagieren können, wenn zum Beispiel ein Kind nur vor sich hinstarrt und nicht mitmacht. Die Therapie müssen dann Profis durchführen. Ich kenne das Beispiel eines Mädchens aus Somalia, das allein unterwegs war und auf der Flucht 23-mal vergewaltigt wurde. So jemand braucht unbedingt eine psychologische Begleitung.
Ist Ihr Berufsstand denn gut aufgestellt für diese Herausforderungen?
Es gibt derzeit viele Tagungen und Fortbildungen zu dem Thema. Wir haben sicher nicht die Kapazitäten, jedes betroffene Kind in Einzeltherapie zu nehmen. Aber es gibt Projekte, unter anderem am C.-G.- Jung-Institut in Stuttgart, in denen Kinder in Gruppen eine Spieltherapie machen. Sehr wichtig wäre es, dass diese Kinder Bezugspersonen haben, um feste Bindungen aufzubauen, so wie ich das erlebt habe.
Wo könnte das stattfinden?
Die Vorbereitungsklassen könnten zum Beispiel so ein Ort sein, wo Kinder nicht nur die Sprache lernen, sondern erste Bindungen zu Pädagogen aufbauen. Und dann natürlich die Schule. Kinder lernen zunächst einmal für jemanden. Im besten Fall übertragen sie die Liebe zu den Eltern auf die Lehrer. Diese Bindung müsste man in der Pädagogik wieder stärker betonen. Auch ehrenamtliche Helfer können solche Bezugspersonen werden. Aber sie müssen es natürlich wollen.
Was passiert, wenn Traumata unbehandelt bleiben?
Nach dem Krieg mussten 99 Prozent ohne Therapie mit ihrem Trauma fertig werden. Man kann damit leben, aber es gibt Risiken. Schon damals wurden die unruhigen und unkonzentrierten Kinder beschrieben. Heute nennt man das ADHS, also Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung. Im Grunde können diese Kinder ihre Affekte schlecht beherrschen, Spannungen nicht im Spiel abfangen, sondern nur durch Bewegung. Das kann auch – vor allem bei Jungen – zu aggressivem Verhalten oder Süchten führen. Wenn man also heute bindungslose, teilweise traumatisierte junge Männer zusammen in eine Unterkunft steckt, ist es nicht verwunderlich, wenn es zu Problemen kommt. Bei uns im Lager gab es damals eine Junggesellenbaracke, dort kam es oft zu gewalttätigen Ausschreitungen.
Sind Sie Ihr Trauma ganz losgeworden?
Die lange Therapie hat mich vom Schlimmsten befreit. Aber es bleiben immer Reste, die mich in bestimmten Situationen überfallen können. Ich mag zum Beispiel keine Candle-Light-Dinner, weil es in der Baracke immer so düster war. Ich bin auch nicht frei von dunklen Gedanken, aber ich weiß, wie ich damit umgehen kann.
Hat die Erfahrung in der Arbeit geholfen?
Für Psychotherapeuten ist es eigentlich ein Tabu, über das eigene Seelenleben zu sprechen. Aber mir hat es in der Arbeit mit den Kindern oft geholfen, dass ich wusste, was sie durchmachen. Und wenn ich heute Bilder von Flüchtlingskindern sehe, denke ich: Ich werde einer von euch bleiben.