Wer Comic noch immer für einen Billigschnuller der Geschmacksinfantilisierten hält, sollte mal einen Blick auf Mawils einfühlsame Geschichte über die Schwierigkeiten des Jungseins in der DDR werfen. Morgen stellt der Künstler sie im Stuttgarter Literaturhaus vor.

Stuttgart - Kaum war die Genossentyrannei der DDR 1989 kollabiert, hatte die nun gesamtdeutsche Literatur ein neues schönes Phantom, eine FDJ-hemden-blaue Blume: den großen DDR-Roman. Wer würde ihn schreiben und wie würde er wohl aussehen, rätselten Kritiker und Funktionäre Jahr um Jahr, Buchmesse um Buchmesse. Oder war er etwa schon da? War es Ingo Schulzes „Simple Storys“? Oder Uwe Tellkamps „Der Turm“? Oder war die DDR vielleicht besser in fantastisch-spekulativen Formen zu fassen, wie sie Simon Urban für „Plan D.“ nutzte? Seit einem Vierteljahrhundert hält diese Debatte das Gefühl am Leben, da sei noch was zu erwarten von unseren Literaten, auch in Zeiten der vermeintlichen Sinnkrise. Und nun ist er da, oder wieder da, je nach Sichtweise, der große DDR-Roman! Hurra! Sapperlott! Oder: Ach herrje! Denn viele werden ihn gar nicht bemerken. Er ist nämlich ein Schmuddelkind und muss abseits der fein gedeckten Tafeln der Literaturerwartungsrunden Platz nehmen, er ist ein Roman in Bildchen, ein Comic: „Kinderland“ heißt er und wurde vom Berliner Künstler Mawil geschaffen.

 

Morgen Abend um 20 Uhr wird Mawil „Kinderland“ im Stuttgarter Literaturhaus vorstellen, und solch einen Rahmen kann man ihm nur wünschen. Denn die Vielen, die hierzulande Comic noch immer für einen Billigschnuller der geistig Zahnlosen und der Geschmacksinfantilisierten halten, müssen nur einen Blick aufs Cover des 300 Seiten starken Bandes werfen, und schon sind alle ihre Vorurteile bestätigt. In Reih’ und Glied stehen da uniformierte Kinder, die Hand zum Gruß der jungen Pioniere an die Stirn gelegt, alle dem ersten Augenschein nach eingeschworen auf die Größe, Tugendhaftigkeit und historische Notwendigkeit des real existierenden Sozialismus. Erst der zweite Blick macht die ganze Einsamkeit des jugendlichen Dissidenten klar, der da in individueller Kluft mit trotzig verschränkten Armen aus der Mitte der Menge heraus starrt.

Keine pompösen Graphic Novels sondern Funnies

Aber wie ist das denn gezeichnet? Eher hingestrichelt als pompös ausgemalt, dreist karikaturenhaft, das Zweidimensionale des Mediums keinesfalls durch alle möglichen perspektivischen Tricks leugnend. „Kinderland“ heißt nicht nur so, es scheint für verbiesterte Comicverächter gewiss ein kleinkindgerecht komplexitätsreduzierendes Einfacherzählwerk, das nicht einmal den mittlerweile als Respektgewinnungsversuch etablierten Namen Graphic Novel verdient hat.

Diesen Begriff scheint auch Mawil, mit bürgerlichem Namen Markus Witzel, nicht besonders zu mögen. Der 38-Jährige sagt ganz unpompös, dass er funnies zeichne. Funnies, das ist ein amerikanischer Begriff, der die gezeichneten kleinen Gaggeschichten aus den Tageszeitungen meint oder jene auf den schnellen Lacher nebenbei abzielenden Comics, die den Leser nicht mit epischen Ansprüchen einschüchtern. Comicfreunde wissen aber, dass sich hinter diesem schlichten Etikett ein paar der großen Erzählwerke des 20. Jahrhunderts angesammelt haben, vielschichtige, aufgebaut aus lauter kleinen Strips, die „Peanuts“ von Charles M. Schulz etwa oder „Calvin & Hobbes“ von Bill Watterson.

Und so ist denn auch „Kinderland“, an dem Mawil sieben Jahre lang gearbeitet hat, alles andere als komplexitätsreduzierend. Wir lernen hier den dreizehnjährigen Mirco kennen, einen Siebtklässler, der den Mief einer durchregulierten Welt ertragen muss. Die zeigt Mawil aber eben nicht als bloß von oben bestimmt, er zeigt uns dauernd, wie auch in solch einem Staat viel von den Einzelentscheidungen abhängt, die Menschen um einen herum treffen – hier also die linientreuen Mitschüler und strebsamen FDJ-ler, mit denen Mirco nicht immer gut klar kommt.

Mit Mädchen kommt er besser klar als mit Jungs

Aber auch als er einen Neuling kennenlernt, der sein Abweichlertum relativ offen lebt, wird Mirco kein Held des Neinsagens. Im Gegenteil, ihm wird eher klar, wie brüchig das ist, was er kennt – erst recht, als er mitbekommt, dass auch seine Eltern mit dem Gedanken spielen, alles zu wagen – und abzuhauen.

Beim raschen Durchblättern kann einem „Kinderland“ – wie viele exzellente Comics fast zwanghaft vorkommen, optisch einfallslos oder jedenfalls gefangen in Konventionen industriellen Erzählens. Mawil arbeitet mit einer relativ, kleinteiligen Panelstruktur, er gönnt den Augen kaum je Abwechslung. Beim Lesen entpuppt sich das als die exakt richtige Methode, um die äußere Beengung von Mircos Leben zu vermitteln, jene nahe herangerückten Grenzen, innerhalb derer der Pubertierende nun klar kommen muss mit dem Wegfall des Gewohnten. Ganz unangestrengt parallelisiert Mawil das Ende der Kindheit und das Ende der DDR, und in scharfem Kontrast zum vermeintlich Vorgestanzten der Seitenaufteilung zeigt er uns die Abweichung des realen Lebens von den Klischees. Gewiss, dieser Mirco ist kein sozial gewandter Selbstvermarkter. Aber mit Mädchen kommt er trotz seiner Unsicherheiten um einiges besser klar als mit den meisten Kerlen.

Weil hier konsequent aus der Perspektive von einem erzählt wird, der den Staats als Ganzes noch nicht durchdacht und viele Ekelhaftigkeiten der DDR noch gar nicht erlebt hat, wäre zweierlei leicht möglich: „Kinderland“ zu einem Trumm verklärender Ostalgie zu machen oder so giftig anklagend wie nur möglich von der Schändung der Unschuld zu erzählen.

Zeitreise in die DDR

Mawil kommt keinem dieser Extreme auch nur einen Moment lang nahe, und dabei hilft sein reduzierender, karikierender, immer wieder Schmunzeln statt Bitternis hervorrufender Zeichenstil. Einerseits entkleidet er die Autoritäten all ihres Pomps, er zeigt sie als Popanze. Andererseits macht er sich jedes Opferpathos unmöglich.

Die zwischen dem Knuffigen und Boshaften wechselnde Darstellung der Figuren stellt jeden Absolutheitsanspruch des Erzählens sehr viel gründlicher in Frage, als das Prosa oder Filmbilder gemeinhin vermögen. So stark der Sog auch ist, den die Geschichte von Mirco entwickelt, so authentisch die Sprache der Figuren eine andere Epoche aufruft – die Bilder schaffen eine freundliche Distanz, erinnern uns daran, dass hier immer nur eine Interpretation dessen stattfindet, was wohl gewesen sein könnte. Wobei ihnen das so ganz nicht gelingt: nach der Lektüre möchte man trotzdem schwören, man habe soeben eine Zeitreise in die DDR hinter sich.