In so mancher Kirche sind die Bänke beim Sonntags-Gottesdienst verweist: Dagegen wollen katholische wie evangelische Kirche jetzt etwas unternehmen. Eine Idee ist ein Gottesdienst für Verliebte.

Stuttgart - Es ist ein Gottesdienst für frisch Verliebte. Aber auch für diejenigen, bei denen die Schmetterlinge im Bauch nicht mehr flattern, die aber trotzdem einen Segen wollen. Zu der Segnungsfeier im Wonnemonat Mai hat der katholische Pfarrer Johannes Steinbach eingeladen. Er predigt seit 15 Jahren in Sankt Georg im Stuttgarter Norden und sucht nach Gottesdienstformen, die Personen ansprechen, die sonst den Weg in die Kirche nicht finden. An diesem Sonntagabend predigt Steinbach deshalb über Liebe, Lust und Sexualität und lässt im Anschluss zwei Schauspieler vor dem Altar auftreten. Die beiden schmachten sich an, tauschen Liebesschwüre und Anzüglichkeiten und landen schließlich eng umschlugen unter dem Mosaik, das Christus als den Welterlöser zeigt.

 

Bewegung in einer „erstarrten Kirche“

Für Steinbach ist der Gottesdienst für Verliebte ein Experiment, genauso wie die Gottesdienstreihe „Omnibus“, die nicht in der Kirche, sondern an anderen Orten stattfindet, zuletzt bei der Landesbaugenossenschaft in der Nordbahnhofstraße. „Wir müssen uns fragen, wie wir den Menschen den Weg zu Gott erleichtern können“, sagt der Theologe und fordert mehr Bewegung in einer „erstarrten Kirche“.

Bewegung wünscht sich auch der katholische Stadtdekan Christian Hermes, der zwar Wert auf die Feststellung legt, dass die katholische Kirche in Stuttgart jeden Sonntag durchschnittlich 15 000 Gläubige zusammenbringe, der aber zugleich Veränderungen anmahnt. „Wir müssen wegkommen von den Sonntagsgottesdiensten zwischen 9.15 und elf Uhr.“ Hermes zählt auf: von den hundert Gottesdiensten, welche die katholische Kirche in Stuttgart jeden Sonntag anbietet, starten lediglich sieben zu anderen Zeiten. „Wir müssen flexibler werden. Familien wollen am Sonntagmorgen nicht in die Kirche, sie wollen in aller Ruhe in den oftmals einzig arbeitsfreien Tag in der Woche starten.“

Gottesdienste „für Anfänger“?

Der Dekan hält deshalb die 46 Pfarreien an, im Zuge des Erneuerungsprozesses, welcher derzeit diözesanweit abläuft, auch über andere Gottesdienstzeiten nachzudenken – genauso wie über andere Gottesdienstformen. „Für viele Menschen ist eine katholische Eucharistiefeier heute genauso verständlich wie ein japanisches Teeritual“, sagt Christian Hermes. Er überlegt deshalb, Gottesdienste für Anfänger zu konzipieren, die den Bürgern helfen sollen, die fest gefügten Abläufe zu verstehen. „Ich erwarte nicht, dass künftig jede Gemeinde ihre Zeiten verschiebt und Gottesdienste für Anfänger anbietet, aber jede Gemeinde soll darüber nachdenken, welches Angebot in ihrem Stadtteil sinnvoll wäre“, sagt der Stadtdekan. Dabei legt der Theologe Wert darauf, die fast 2000 Jahre alten Rituale zu achten. „Wo haben wir denn heute noch eine so unglaubliche Tradition?“

Landeskirche ruft „Jahr des Gottesdienstes“ aus

Wie man Menschen dazu bewegen kann, in die Kirche zu gehen, darüber machen sich auch die Verantwortlichen bei der evangelischen Kirche Gedanken. Die Landeskirche hat deshalb das Jahr 2012 zum Jahr des Gottesdienstes ausgerufen. „Wir wollen daran erinnern, dass der Gottesdienst der Mittelpunkt des Gemeindelebens ist“, sagt der landeskirchliche Sprecher Oliver Hoesch. Und vergisst nicht zu erwähnen, dass es sich dabei nicht etwa um „eine Maßnahme zur Steigerung der Gottesdienstzahlen“ handele. Es gehe auch nicht darum, in diesem Jahr möglichst viele neue Formen zu erfinden, „davon gibt es in der evangelischen Kirche schon jede Menge“.

Zu denen, die in Stuttgart mit Erfolg vom typischen Sonntagsgottesdienst abweichen, zählen der frühere Obertürkheimer Pfarrer Ralf Vogel sowie sein Kollege Albrecht Hoch aus dem Stuttgarter Osten. Während Vogel bei seinen Nachtschicht-Gottesdiensten auf prominente Gäste und eine aufwendige Inszenierung der Bibeltexte setzt, ist Hoch ein Anhänger christlicher Populärmusik. Wenn der Gospelchor der Heilandskirche mit seinen mehr als 200 Sängern auftritt, ist das Gotteshaus voll. „Es kommen viermal so viele Leute wie an Heiligabend“, erzählt Hoch und ergänzt: „Da kann keiner mehr umfallen.“

Gekürzte Predigt als Weg zum Erfolg?

Zusätzlich lädt die Kirche einmal im Monat zum Frühschicht-Gottesdienst ein, den ebenfalls Mitglieder des Chores mitgestalten und bei denen Hoch seine Predigt um „30 Prozent kürzt“. Das Engagement für die populäre christliche Musik zahlt sich aus: „Von den Taufen und Trauungen, die ich mache, kommen fünf Prozent aus meiner Gemeinde, der Rest von außerhalb.“ Hoch findet, man müsse dem Volk im Sinne Luthers auch „musikalisch aufs Maul schauen“: „Wir haben als Kirche zu lange weitergemacht wie bisher und damit riskiert, dass der Normalgottesdienst zu einer Art Sondergottesdienst für Ältere wird.“

Ralf Vogel ist mit Kritik zurückhaltend, er erzählt lieber, dass er Gottesdienst machen will, wie es ihm Spaß macht. Seine Nachtschicht-Reihe hat sich zum Publikumsrenner entwickelt und ist der Landeskirche inzwischen eine halbe Sonderpfarrstelle wert. Im Durchschnitt besuchen 500 Gäste die Gottesdienste, beim Auftritt von Joachim Gauck im Januar mussten die Organisatoren 200 Interessierte wieder nach Hause schicken. Vogel skizziert, wohin es künftig gehen könnte: „Wir haben einen After-Work-Gottesdienst bei Daimler in Untertürkheim gestaltet, zu dem viele Besucher mit der Aktenmappe unterm Arm kamen.“ Wenn After-Work-Partys gut laufen, warum sollten es dann nicht auch After-Work-Gottesdienste tun, fragt Vogel.

Warnung vor zu hohen Erwartungen

Neue Formen, andere Zeiten, die Bestrebungen stoßen auch auf Skepsis. Herbert Schmucker, der Leiter der katholischen Seelsorgeeinheit Sankt Maria-Sankt Fidelis, weist zum Beispiel darauf hin, dass es in jeder Gemeinde Zwänge gebe: „Wir müssen auch die Gottesdienste der muttersprachlichen Gemeinden unterbringen.“ Schmucker warnt zudem davor, die treuen Gottesdienstbesucher mit zu vielen Experimenten zu vergrätzen. Der evangelische Pfarrer Dieter Kümmel aus Zuffenhausen, der selbst regelmäßig gut besuchte Gottesdienstreihen gestaltet, warnt vor hohen Erwartungen: „Wir haben in den vergangenen Jahren unsere Zeiten mehrfach verschoben, mehr Leute sind nicht gekommen.“

Der evangelische Stadtdekan Hans-Peter Ehrlich freut sich über die Vielfalt, weiß aber auch: „Ob Leute kommen, hängt davon ab, ob der Pfarrer gut ist. Die Besucher wollen eine ordentliche Predigt hören, das ist gute protestantische Tradition.“