Ein 80-Jähriger, der in den vergangenen zwei Jahren mehrfach Flugblätter mit rechtsextremem Inhalt verteilt hat, ist wegen Schuldunfähigkeit freigesprochen worden. Ein Gutachter attestiert ihm eine „anhaltende wahnhafte Störung“.

Kirchheim - Der betagte Angeklagte erscheint nicht vor dem Amtsgericht Kirchheim. Selbst eine von der Vorsitzenden Richterin Franziska Hermle-Buchele nach Bissingen beorderte Streifenwagenbesatzung, die den 80-Jährigen in dessen Garage aufstöbert, in der er sich zuvor versteckt hat, kann ihn nicht dazu bewegen, seiner Verhandlung wegen des Vorwurfs der Volksverhetzung beizuwohnen. In einem Telefonat mit der Richterin und seinem Anwalt erreicht der Angeklagte, dass der Prozess ohne ihn stattfindet.

 

Und so bleibt der Senior den meisten Prozessbeteiligten – selbst der Kontakt zu seinem Verteidiger beschränkte sich im Vorfeld auf wenige Sätze am Telefon – eher unbekannt. Das gilt allerdings nicht für die abstrusen Flugblätter, die er seit Anfang 2013 flächendeckend streut. Laut der Anklage, die nur drei Fällen nachgeht, hat er sie zunächst in Briefkästen von Nachbarn gesteckt, aber auch an die Verwaltung der Stadt Wernau verschickt. Im Laufe der Verhandlung stellt sich heraus, dass er danach die Briefe mit größtenteils wirrem, stets rechtsextremem Inhalt regelmäßig auch an das Kirchheimer Rathaus, das Amtsgericht Kirchheim und die Lokalzeitung adressiert hat. Von „gentechnisch erfassten jüdischen Verbrechern“ ist da die Rede, von der „Holocaustlüge“ oder von einem mit „Reichsdeutschen“ besetzten Ufo, das seit dem Ersten Weltkrieg unterwegs sei, um Millionen von Juden und Amerikanern zu bekämpfen. Der Mann fordert zudem den „Friedensnobelpreis für Adolf Hitler“ sowie die Befreiung vom „Joch der jüdischen Verbrecher“, und er unterschreibt die Pamphlete stets mit „Sieg heil“.

Strafbefehl nicht akzeptiert

Damit hat er sich eindeutig der Volksverhetzung schuldig gemacht, einsehen tut er das aber nicht. Der 80-Jährige hat deshalb Einspruch gegen einen entsprechenden Strafbefehl zur Zahlung von 2400 Euro eingelegt und damit die Verhandlung selbst initiiert, zu der er nun nicht erscheint. Denn laut seinem Verteidiger akzeptiert er die Gerichtsbarkeit nicht, hält sie gar von „finsteren Mächten“ gesteuert, wie er der Richterin bereits geschrieben hat.

Doch am Ende wird er freigesprochen, weil ein psychiatrischer Gutachter Zweifel an seiner Schuldfähigkeit hegt. Der 64-jährige Sachverständige attestiert dem 80-Jährigen eine „anhaltende, wahnhafte Störung“. Sie komme immer dann zum Vorschein, wenn er auf die von ihm verbreiteten kruden Gedanken angesprochen werde. Beispielsweise habe der Mann daraufhin dem Gutachter gegenüber die Psychiatrie als „Brutstätte der Korruption und der Holocaustlüge“ bezeichnet. Bei der angesprochenen Thematik werde der Angeklagte laut, sei „erheblich emotional angespannt“ und fühle sich im Recht. Argumenten – und seien sie noch so logisch – sei er dann nicht zugänglich. Die wahnhaften Gedanken gründeten womöglich auf „alten rechtsextremen Überzeugungen“, erklärt der Sachverständige.

Der Angeklagte lehnt eine Behandlung ab

Ansonsten trete der Angeklagte seinen Mitmenschen freundlich und höflich gegenüber, er könne sich klar artikulieren und weise keinerlei Anzeichen einer Demenz auf. Seine Störung indes sei „ohne Behandlung nicht korrigierbar“, ist sich der Mediziner im Zeugenstand sicher. Eine Therapie lehne der Mann jedoch kategorisch ab, und da er keine Fremd- oder Selbstgefährdung darstelle, könne man ihn nicht dazu zwingen. Für den Gutachter steht fest: „Vermutlich wird er die Verbreitung seiner Flugblätter fortsetzen.“

Dennoch plädiert auch der Staatsanwalt auf Freispruch, denn „hier ist jemand, der juristisch gesehen nichts dafür kann, dass er so handelt“. Die Richterin Franziska Hermle-Buchele empfindet angesichts des Freispruches für den Angeklagten einen „schalen Beigeschmack“. Doch eine Schuldunfähigkeit des 80-Jährigen sei nicht auszuschließen, weshalb das Urteil nicht anders ausfallen könne. Für den Mann erachtet sie es als schlimm, „in dieser Gedankenwelt verhaftet zu sein und seinen Frieden nicht finden zu können“. Aufgrund des Gutachtens gehe sie davon aus, „dass wir auch in Zukunft Post von ihm bekommen werden“.