Distanz kennen manche beim Anblick kleiner Kinder nur noch von früher. Warum müssen Passanten denn immer in den Kinderwagen fassen? Oder Bonbons verschenken? Unsere Kolumnistin Simone Höhn hat langsam genug von der Anteilnahme.

Stuttgart - Neulich in der U-Bahn: Sohn sitzt im Buggy, gegenüber ein älterer Herr. Erfreut über die willkommene Abwechslung während der trägen U-Bahn-Fahrt beugt sich Herr in Richtung Sohn, zuppelt ihm am Schuh herum, tätschelt seinen Teddybären und macht mit den Fingern seltsame Verrenkungen (lustige Fingerspiele?), die stets mit Einmal-Ärmchen-Knuffen enden.

 

Was den Sohn belustigt, nimmt die Mutter angestrengt zur Kenntnis. Denkblase: Hat der Mann auch saubere Hände? Muss er denn so nahe kommen? Zieht er jetzt auch noch ein Bonbon aus der Tasche?

Es ist ja so: mit der Schwangerschaft endet so etwas wie die natürliche Distanz zwischen fremden Menschen. Und apropos älterer Herr – je älter die Menschen, desto glänzender ihre Augen beim Anblick eines Babybauchs oder Kindes. Distanz kennen diese Menschen dann auf einmal nur noch von früher.

Das geht schon in der Schwangerschaft los. Beispiel Hallenbaddusche, achter Monat. Eine Rentnerin (nebst Hochschwangeren häufig an Werktagen im Schwimmbad anzutreffen) fixiert ganz unverhohlen den Mittelbau ihres Gegenübers: „Ah ja, schwimmen ist gut für Sie und das Kleine! Sieht aus, als wäre es bald so weit!“ Da bekommt das Wort Smalltalk plötzlich eine ganz neue Dimension.

Ein paar schlagfertige Antworten sollte sich Mama in spe während der Schwangerschaft unbedingt zulegen, zusätzlich zur Säuglingserstausstattung. Etwa: „Danke für den Hinweis, ich war mir nicht sicher, ob das Baby womöglich unter Wasser rausschwimmen kann.“ Noch brenzliger wird es, wenn es auf Tuchfühlung geht. Beispiel Büroaufzug: „Oh, so ein nettes Bäuchle! Darf ich mal anfassen?“ (Achtung, Ansage, keine Frage). Eine weit verbreitete Unart, für die es allerdings einen einfachen Konter gibt: „Darf ich jetzt auch mal?“

Eltern und Kinder auf der Straße sind wie Freiwild

Wenn die Kinder erst einmal da sind, geht auch noch der letzte Rest an Distanz den Bach hinunter. Da wird fröhlich in den Kinderwagen gepackt, herumgetätschelt, übers Köpfchen gestrichen, geduziet und grimassiert, dass man Fratzen am laufenden Band schneiden möchte.

Damit wir uns nicht falsch verstehen – die Freude anderer Menschen über fremde Kinder kann ganz wunderbar sein: „Ha, so ebbes Netts!“ Aber eben auch ganz schön nervig: „Darfst du schon einen Keks haben?“, „Dir ist doch bestimmt kalt!“, „Was hat er denn bloß?!“. Jeder darf mal was sagen. Ei-dei-dei, Guck-Guck, Winke-Winke! Wer hat noch nicht, wer will noch mal?

Eltern mit Kindern auf der Straße sind so etwas wie Freiwild. Jederzeit ansprech- und anfassbar, eine Art Empfangsstation für Kommentare, Kekse und Bonbons jedweder Art. Zurück in der Zuflucht der eigenen vier Wände muss man sich und die Kinder erst mal kräftig schütteln: Kommentare abschütteln, Kekskrümel aus dem Kinderwagen ausschütteln. Und am besten auch noch die Hosen- und Jackentaschen ausschütteln: irgendein altes Sahnebonbon vom älteren Herrn aus der U-Bahn findet sich dort ganz bestimmt.