Die Türken sind nicht alleinverantwortlich am Völkermord der Armenier. Dies sollte heute auf der Basis vorliegender Dokumente umfassender dargestellt werden, meint unser Kolumnist Götz Aly.

Ankara - Wie viele Armenier 1915 im Osmanischen Reich ermordet wurden und während der Deportationen an Durst, Hunger und Seuchen starben, ist umstritten. Doch kann man von einer Million Todesopfer ausgehen. In wenigen Tagen wird der Deutsche Bundestag des „Völkermords an den Armeniern und anderen christlichen Minderheiten vor 101 Jahren“ gedenken. Das ist richtig, auch wenn dieser Akt von der türkischen Regierung und der Mehrheit der Türken abgelehnt wird. Allerdings sollten in der Resolution nicht nur Türken als Täter und Armenier als Opfer genannt werden, sondern auch andere Mittäter und Opfer. Das Bestürzende an Genoziden ist, wie integrativ sie auf diejenigen wirken, die zwar nicht die Tatherrschaft besitzen, aber mitmachen. In seinem Buch „Extrem gewalttätige Gesellschaften“ (2010) schreibt der Historiker Christian Gerlach: „Türken, Kurden, Araber und Griechen waren daran interessiert, armenische Frauen oder Kinder als zusätzliche Arbeitskräfte oder für Sex aufzunehmen.“ Die türkische Regierung „stellte die widerspenstigen Kurden ruhig“, indem sie es förderte, dass auch Kurden Hunderttausende Armenier beraubten und massakrierten. Vor 1915 lebten die weitgehend alphabetisierten Armenier in den Städten, verdienten ihr Geld mit Handel, gründeten Banken und kleine Fabriken. Im Durchschnitt waren sie wohlhabender als die zumeist bäuerlichen Türken und Kurden. Das machte das Rauben so attraktiv.

 

Angriffe der imperialen Mächte

Die offizielle Türkei verweigert sich der Erinnerung an diese Mordtaten. Stattdessen spricht sie allein von den blutigen Angriffen der imperialen Mächte, allen voran Russland und England, die seit dem 18. Jahrhundert intensiv die Zerschlagung des Osmanischen Reiches betrieben hatten. Nach britischen Plänen sollten den Türken Konstantinopel (Istanbul) und die fruchtbaren Küstenstreifen am Mittelmeer und am Schwarzen Meer genommen werden. Die Türkei wäre dann ohne Meerzugang auf das Landesinnere von Anatolien beschränkt geblieben. Dieser Staat sollte weder an den Irak noch an den Iran angrenzen, vielmehr war dort ein armenischer Pufferstaat vorgesehen. Mit solchen zerstörerischen Zielen förderten Russland und England den armenischen Nationalismus im 19. Jahrhundert. All das rechtfertigt den Völkermord nicht. Hauptverantwortlich waren Türken. Doch gehört zu urteilsgerechter Historiografie auch die Darstellung der Vorgeschichte und der äußeren Umstände.

Umfassend dokumentieren

Wie wäre es also, wenn in Berlin nicht nur eine verurteilende Resolution beschlossen, sondern auch eine internationale Historikerkommission gegründet würde, die den Völkermord an den Armeniern umfassend dokumentiert – die Vorgeschichte ebenso wie die mörderischen Details. Sie hätte die Akten auszuwerten, die in London, Moskau, Berlin und Paris und in den türkischen Staatsarchiven liegen, ebenso die Erinnerungsberichte. Sie hätte aber auch die sehr zahlreichen Massaker und Vertreibungen in den Blick zu nehmen, die christliche Täter vor 1915 an muslimischen Zivilisten begangen haben. Am Ende wird man das Urteil „Völkermord“ nicht zurücknehmen müssen. Doch kann die genaue und vielschichtige Einordnung des Geschehenen zum Geschichtsfrieden und damit zur Versöhnung beitragen. Das wäre ein Projekt für die nächsten 20 Jahre.

Vorschau
Am kommenden Dienstag, 31. Mai, schreibt an dieser Stelle unsere Autorin Sibylle Krause-Burger.