Geradezu eine Zeitenwende erlebt das Land mit der Regierungsübernahme durch die Grünen und die SPD, meint StZ-Chefredateur Joachim Dorfs.

Chefredaktion: Joachim Dorfs (jd)

Stuttgart - Gestern sind in Europa die Uhren auf Sommerzeit vorgestellt worden. Geradezu eine Zeitenwende erlebt nun Baden-Württemberg mit der Regierungsübernahme durch die Grünen und die SPD und der Abwahl der seit fast sechs Jahrzehnten regierenden CDU. Und auch für die schwarz-gelbe Regierungskoalition in Berlin tickt jetzt die Uhr.

 

Wie sagte doch einst der ehemalige baden-württembergische Ministerpräsident Erwin Teufel: "Oppositionen werden nicht gewählt, sondern Regierungen abgewählt." Ohne den neuen Spitzenkräften Winfried Kretschmann von den Grünen und Nils Schmid von der SPD zu nahe zu treten, waren es eher Regierungschef Stefan Mappus und die CDU im Verein mit einer kaum sichtbaren FDP, die die Wahlen verloren haben. Das ändert freilich nichts daran, dass Kretschmann in der wichtigsten Wahl des Jahres in Deutschland allen Tücken des Wahlrechts zum Trotz einen historischen Sieg eingefahren hat, der die politische Landkarte neu einfärbt.

Bewegte Zeiten stehen bevor

So, wie der Wahlkampf gelaufen ist, kam die Niederlage für Stefan Mappus am Ende nicht mehr überraschend. In letzter Konsequenz war es die Atomkatastrophe von Fukushima, die ihn das Amt in der Stuttgarter Villa Reitzenstein kostete. Der CDU-Ministerpräsident und Kanzlerin Angela Merkel hatten nach ihrer rasanten Wende in der Energiepolitik ein Glaubwürdigkeitsdefizit. Das überstrahlte auch die wirtschaftlich gute Bilanz Baden-Württembergs mit hohem Wirtschaftswachstum und niedrigen Arbeitslosenzahlen. Hinzu kamen sowohl Probleme außerhalb seines Einflussbereichs als auch eigene Fehler. Es waren vor allem jene Momente, in denen er sich als Macher präsentiert hat, die am Ende zu seinem Amtsverlust beitrugen und für die er die Verantwortung zu übernehmen hat.

Stuttgart, Baden-Württemberg und auch Berlin stehen nun bewegte Zeiten bevor. Bundesweit ist nun klar, dass sich die Grünen anschicken, zulasten praktisch aller anderen Parteien - auch der SPD - in neue Dimensionen vorzustoßen. Dies geht einher mit der Feststellung, dass Atomenergie in Deutschland keine Zukunft mehr hat.

Politische Verantwortung verändert

Im Südwesten stehen etwa neben dem Wechsel in der Energiepolitik die Abschaffung der Studiengebühren, die Neuorientierung der Bildungspolitik mit der Einführung der zehnjährigen Basisschule und ein Bürgerentscheid zum Bahnprojekt Stuttgart 21 auf dem Programm - Reformen, die zum Teil auch unter den künftigen Koalitionspartnern nicht unumstritten sind und die teuer werden können.

Kretschmann und die Grünen können jetzt beweisen, dass sie nicht die Dagegen-Partei sind, als die sie in den Auseinandersetzungen über große Infrastrukturprojekte oft verunglimpft wurden. Die politische Verantwortung, die sie nun gemäß dem Bonmot von SPD-Altkanzler Gerhard Schröder in einem Bundesland erstmals als Koch und nicht als Kellner übernehmen, wird sie verändern; Kretschmann und andere haben seit Jahren gezeigt, dass sie dazu bereit sind. Nun muss auch die Partei hinter den Führungsfiguren beweisen, dass sie dazu in der Lage ist.

Die Uhren werden zurückgestellt

Dass die Uhren nun auch in Berlin anders ticken, wird sich schnell zeigen. Vor einigen Jahren war es die Niederlage der SPD in ihrem Kernland Nordrhein-Westfalen, die Schröder dazu brachte, vorgezogene Neuwahlen im Bund anzustreben. So weit ist die schwarz-gelbe Koalition in Berlin nicht. Doch Merkel und vor allem FDP-Chef Guido Westerwelle sind nach den gestrigen Niederlagen - immerhin ist nicht nur Baden-Württemberg verloren gegangen, sondern auch der Regierungswechsel im SPD-regierten Rheinland-Pfalz gescheitert - in ihren eigenen Parteien angezählt.

Im Herbst werden in Europa die Uhren zurückgestellt. Die politischen Veränderungen im Gefüge der deutschen Parteienlandschaft dürften wesentlich länger wirken.