Wahlkämpfe sind keine Kuschel-Veranstaltungen. Aber wenn Politiker immer öfter niedergebrüllt werden, geht die politische Kultur vor die Hunde, kommentiert Rainer Pörtner.

Politik/Baden-Württemberg: Rainer Pörtner (pö)

Stuttgart - Im Internet macht zurzeit ein Video Karriere, das einen brüllenden deutschen Außenminister zeigt. Frank-Walter Steinmeier ist dort zu sehen, aufgenommen auf dem Berliner Alexanderplatz bei einer Veranstaltung der SPD zur Europawahl. Mit hochrotem Kopf schreit Steinmeier ins Mikrofon – herausgefordert durch einen Trupp pfeifender, krakelender Menschen, die ihn als „Kriegstreiber, Kriegstreiber!“ beschimpfen.

 

Nach mehreren Wochen nervenzehrender Pendeldiplomatie in Sachen Ukraine zuhause in Deutschland öffentlich aufzutreten und dann als Faschistenfreund verunglimpft zu werden – das lässt den sonst so ruhigen Steinmeier aus der Haut fahren. Er echauffiert sich, weist die Schreier selbst schreiend zurecht, bezichtigt sie seinerseits, mit ihren dummen Parolen die Völker gegeneinander aufzuhetzen. Eine halbe Million Mal ist die Aufzeichnung dieses Ausbruchs auf der Videoplattform Youtube bereits angeklickt worden.

Ohrenbetäubende Geräuschkulisse, diffamierende Parolen

Was Steinmeier widerfahren ist in der deutschen Hauptstadt, ist inzwischen Alltag für Spitzenpolitiker in der ganzen Republik. Wenn sie auf öffentlichen Plätzen wahlkämpfen, wird versucht, sie mit einer ohrenbetäubenden Geräuschkulisse, mit provozierenden bis diffamierenden Parolen und Plakaten zu stören, ihre Rede zu verhindern.

Die Kontrahenten, die sich in solchen Momenten gegenüberstehen, wechseln. Die Methode ist überall gleich. Egal, ob Angela Merkel (CDU) auf dem Berliner Breitscheidplatz von den Autonomen der Stadt gestört wird, ob Stuttgarts linke Szene den Auftritt von Bernd Lucke (AfD) auf dem Schillerplatz zu torpedieren sucht, oder ob die S-21-Gegner wenige Minuten später Sigmar Gabriel (SPD) vor dem Kunstmuseum mit einem Pfeifkonzert und verbalem Getöse malträtieren.

Diese Proteste sind nicht auf Argumente, auf Diskussion angelegt – sie wollen zerstören. Sie sind praktizierte Ob-struktion, eine offene Missachtung der Meinungsfreiheit, die immer auch die Meinungsfreiheit des anderen zu sein hat.

Verachtung eines zivilen Umgangs miteinander

Politiker müssen Widerspruch bekommen, sie müssen auch sprachliche Entgleisungen bis zu einem grenzwertigen Maß ertragen können. Sie müssen durch Protest auf der Straße, durch öffentliche Demos herausgefordert werden. Das alles ist Teil des notwendigen politischen Streits. Demokratie ist keine Kuschel-Veranstaltung, denn es geht immer um viel: um Macht, um Geld, um Lebenschancen. Das darf, ja: soll mit harten Bandagen ausgetragen werden, unter den Politikern wie zwischen Politikern und Bürgern.

Was sich zunehmend bei Wahlveranstaltungen in der Republik abspielt, überschreitet jedoch die Grenzen des Erträglichen. Die Unduldsamkeit gegenüber führenden Parteipolitikern, die Verachtung eines zivilen Umgangs miteinander, die Hybris, die eigene politische Haltung zur einzig richtigen zu erklären – all das nimmt erschreckende Ausmaße an. So geht demokratische Kultur vor die Hunde.