Erstmals bekommen Europas Bürger zwar Einblicke in den Zustand von Kernkraftwerken jenseits ihrer nationalen Grenzen – aber entscheidende Punkte fehlen. Ein Kommentar von Brüssel-Korrespondent Christopher Ziedler

Brüssel - Günther Oettinger hat Wort gehalten – irgendwie. Kurz nach der Atomkatastrophe von Fukushima im März 2011, als sich die Aufmerksamkeit schnell von Japan nach Europa verlagerte, wo die Menschen nach der Sicherheit hiesiger Meiler fragten, versprach der EU-Energiekommissar eine eingehende Prüfung und vollkommene Transparenz. Es werde eine europäische Überprüfung sein, die möglichen Kumpaneien zwischen Kraftwerksbetreibern und nationalen Aufsehern keine Chance lasse. Jeder Bürger werde nachschauen können, wie es um die Reaktoren in seiner Region bestellt ist. Seit Donnerstag ist es so weit: Wir wissen zumindest ein bisschen besser Bescheid als vorher.

 

Das Positive vorweg: erstmals bekommen Europas Bürger Einblicke in den Zustand von Kernkraftwerken jenseits ihrer nationalen Grenzen, die im Falle einer möglichen Katastrophe keine mehr sind. Das ist gut so, weil etwa Deutschland von einem GAU in Fessenheim oder Cattenom bei der normalerweise vorherrschenden Westwindlage vermutlich stärker betroffen wäre als Frankreich selbst. Nukleare Sicherheit ist ein europäisches Thema. Die Gesundheit der Bundesbürger darf nicht allein von der Gnade und der Informationspolitik eines französischen Präsidenten abhängen, auch wenn er kürzlich angekündigt hat, dass im Pannen-AKW Fessenheim 2016 der Stecker gezogen wird. Genauso sollten Polen, Tschechen oder Österreicher wissen, dass auch die deutschen Meiler nicht perfekt sind, wie die Ergebnisse des Stresstests eindrucksvoll belegen.

Dauerhafte Stresstests für AKWs sollten Standard sein

Solche Stresstests zur Dauereinrichtung zu machen und überhaupt einheitliche, hohe Standards einzuführen, wie die EU-Kommission das nun plant, sollte selbstverständlich sein. Dass dem nicht so ist, zeigen das 18-monatige Hickhack bis zur Präsentation der Ergebnisse und ihre nicht zu übersehenden Mängel eindeutig. Von Anfang an war klar, dass die Öffentlichkeit nicht erfahren würde, ob alle 145 Reaktoren in der EU auch Terroranschlägen etwa mit Flugzeugen widerstehen würden. Menschliches Versagen stand ebenfalls nicht auf der Prüfliste, ist zugegebenermaßen aber auch kaum zu messen.

Vor allem aber – und das ist der vielleicht größte Schwachpunkt – findet keine allgemein verständliche Zusammenschau statt. Was bedeutet es, wenn das Erdbebenwarngerät „installiert oder verbessert“ werden muss? Wie viele Verbesserungsvorschläge muss es geben, dass der Ist-Zustand eines Meilers tatsächlich als unsicher bezeichnet werden kann? Es herrscht jetzt Transparenz – allerdings auf einer technischen Detailebene, die viele Beobachter kaum schlauer als zuvor zurücklassen dürfte. Es fehlt eine klare Bewertung der Sicherheitslage für jedes einzelne Kraftwerk. Oettingers Mannschaft wollte in diesem Punkt mehr, wurde jedoch von den Mitgliedstaaten ausgebremst.

Der Erkenntnisgewinn ist damit zwar geringer als von manchen erhofft, aber dennoch vorhanden. Zu Gütesiegeln für Atomkraftwerke, vor denen Oettingers grüne Kritiker anfänglich warnten, taugen die Stresstest-Ergebnisse jedenfalls nicht.