Der Lehrstellenmarkt wandelt sich grundlegend. Immer mehr Firmen haben Mühe ihre Lehrstellen zu besetzen. Das ist gut für die Bewerber – aber ein ernstes Problem für die Wirtschaft, kommentiert Thomas Thieme.

Stuttgart - Viele junge Menschen haben bis jetzt vom Berufsleben nur Absagen kennen gelernt – aus dieser Abseitsfalle müssen sie herausgeführt werden“, sagt Verdi-Chef Frank Bsirske. Die Situation am Jobmarkt ist dermaßen angespannt, dass die Bundesanstalt für Arbeit kurz vor dem Start des neuen Ausbildungsjahres Alarm schlägt: „Bis zu 70 000 Schulabgänger werden bei der Lehrstellensuche leer ausgehen.“ Gefallen sind diese beiden Sätze vor ziemlich genau zehn Jahren. Sie beschreiben eine Zeit, in der die Arbeitslosenzahl in Deutschland bedrohlich auf die Fünf-Millionen-Marke zusteuerte. Die Unternehmen hatten die freie Auswahl, das Angebot an potenziellen Lehrlingen war groß. Auf der anderen Seite warteten viele der Jugendlichen, die im Bewerbungsverfahren gescheitert waren, sogar vergeblich auf die von Bsirske beschworene Absage.

 

Schuld an der damaligen „Ausbildungsmisere“ waren nach Ansicht der Gewerkschaften vor allem die nicht ausbildenden Betriebe. Eine Ausbildungsplatzabgabe für Firmen, die keine Lehrlinge einstellen, wurde von Politik und Wirtschaft lange und kontrovers diskutiert. Eingeführt wurde sie nie – heute verschwendet keiner mehr einen Gedanken daran. Das liegt vor allem daran, dass sich die Vorzeichen am Ausbildungsmarkt im Laufe der vergangenen Dekade umgekehrt haben. Heute können die Betriebe in vielen Bereichen nicht mehr in einem Pool von unzähligen hoch-qualifizierten Schulabgängern fischen. Die Macht innerhalb des Ausbildungssystems ist auf die Seite der Schulabgänger gewandert, die sich für eine duale Ausbildung entscheiden. Und die Unternehmen stemmen sich gegen den Azubi-Mangel, der nun nicht mehr kleinzureden ist.

Vor allem kleinere Betriebe haben das Nachsehen

Zwar werden attraktive Arbeitgeber immer guten Nachwuchs rekrutieren können, aber genau das fällt kleinen und mittelständischen Unternehmen zunehmend schwerer. So kommt es häufig vor, dass ein Schulabgänger mit guten Noten und/oder sonstigen Qualitäten gleich mehrere Zusagen erhält und sich für das aus seiner Sicht interessanteste Unternehmen, das angenehmste Arbeitsumfeld oder die besten Aufstiegsmöglichkeiten entscheidet. Nach dieser Abwägung muss sich die „unterlegene“ Firma Ersatz für den schon eingeplanten Lehrling suchen – auf einem ohnehin angespannten Bewerbermarkt.

Der Industrie- und Handelskammertag im Land warnt nun vor einem Trend, wonach immer mehr Betriebe ihre Ausbildung zurückfahren oder gar nicht mehr ausbilden, weil sie über mehrere Jahre solche oder ähnliche Erfahrungen gemacht haben. Hinzu kommt die hohe Anzahl von Abbrechern insbesondere in Bereichen mit wenig anziehenden Arbeitszeiten und -bedingungen. Diese Reaktion kann man zwar aus der Sicht der Firmen nachvollziehen, ihre sinkende Ausbildungsbereitschaft ist dennoch ein schlechtes Signal für den gesamten Standort Baden-Württemberg.

Auch Schwache profitieren von der angespannten Situation

Die Unternehmen würden gut daran tun, ihre Anstrengungen auf der Suche nach Nachwuchs weiter zu erhöhen. Dazu haben sie guten Grund, schließlich wird die Zahl der Schüler und damit auch die der Lehrlinge absehbar weiter sinken, was den Fachkräftemangel verschärft. Die Azubis sollten allerdings weder mit Dienstwagen noch mit Smartphones angelockt werden. Vielmehr müssen ihnen echte Perspektiven geboten werden, sei es durch Hilfen beim Start, Weiterbildungs- oder Aufstiegsmöglichkeiten sowie die Sicherheit, nach der Lehre übernommen zu werden.

Über dieser guten Nachricht für den angehenden Firmennachwuchs darf aber eines nicht vergessen werden: es gibt nach wie vor Jugendliche, die nach der Schule nicht ausreichend auf das Berufsleben vorbereitet sind. Doch auch sie können von den Vorzügen eines Bewerbermarktes profitieren – wenn man sich nur mehr um sie und ihre verborgenen Talente bemüht.