Japan hat ein Jahr nach der Dreifachkatastrophe noch immer mit den Folgen zu kämpfen. Die Nation hat den Glauben an ihr System verloren, meint Christian Gottschalk.

Politik/ Baden-Württemberg: Christian Gottschalk (cgo)

Tokio - Alltag sei etwas Wunderbares, etwas ganz und gar Unersetzliches, sagt die japanische Schriftstellerin Banana Yoshimoto. Das galt so zumindest vor dem 11. März des vergangenen Jahres. Das war der Tag, der den Alltag einer ganzen Nation veränderte. Der Tag, der Hoffnung zerstörte. Der Tag, der Folgen in einem Ausmaß produzierte, dass diese bis heute nicht fassbar sind. Ein Jahr nach den Katastrophen lassen sich nur Umrisse davon aufzeigen. Da sind 19 000 Tote, da sind 125 000 zerstörte Häuser, da sind 70 000 umgesiedelte Menschen und Wiederaufbaukosten in Höhe von 180 Milliarden Euro, mindestens, das hat die Weltbank so geschätzt. Doch was in den Herzen der Menschen und in ihren Köpfen geschehen ist, das wird von keiner Statistik erfasst. Sicher ist nur: viel ist da geschehen, und es ist zweifelhaft, ob der Alltag in Japan jemals wieder so sein wird, wie er einmal war.

 

Japaner wägten sich in Sicherheit

Japan ist ein Inselland, und das hat die Mentalität der Menschen geprägt. Es gibt keine ständige Bedrohung durch Nachbarn, zumindest keine existenzielle. Ein paar kleine Streitigkeiten mit Russland und China, doch das ist zu vernachlässigen. Es gibt keine Grenzscharmützel und keine feindlichen Übertritte, zumindest nicht auf dem Land. Japaner wägten sich in Sicherheit – von außen und natürlich von innen erst recht. Das war ganz selbstverständlich. Nun ist es mit dieser Selbstverständlichkeit vorbei. Das Gefühl der Sicherheit ist großen Teilen einer Nation abhandengekommen.

Mit Erdbeben ist man in Japan schon immer fertig geworden, irgendwie. Die gewaltige Zerstörungskraft des Tsunamis hat zwar schockiert, doch die durch die Flutwelle verursachte Trümmerlandschaft wäre unter Schmerzen wiederaufzubauen gewesen. In Fukushima ist dann aber nicht nur ein Reaktor zusammengekracht, sondern auch ein Stück weit der Glaube an das System. Ein System, das vor der Katastrophe versprochen hatte, alles im Griff zu haben, und das nach der Katastrophe seine Hilflosigkeit in einer erschreckenden Deutlichkeit zur Schau trug.

Kein Silberstreif am Horizont

Das alles geschah zu einem Zeitpunkt, als es gerade vage Hoffnungen darauf gab, das Land werde sich wieder berappeln nach dem verlorenen Jahrzehnt, als die Seifenblasenwirtschaft geplatzt war und die Krise im Wohnzimmer einer jeden Familie saß. Wer heute in Japan 30 Jahre alt ist, der hat noch nie eine blühende Konjunktur erlebt. Und wenn er nun nach vorne schaut, dann ist da kein Silberstreif am Horizont zu sehen. Nicht einmal jemand, der diesen Silberstreif versprechen kann.

Ein Premierminister ist schon über die Katastrophenbewältigung gestürzt, ein zweiter kann noch in diesem Jahr bei möglichen Neuwahlen aus dem Amt gefegt werden. Aber das ist dann auch nur ein Beseitigen von Symptomen. Niemand ist da, dem man vertrauen könnte. Nicht die Politiker, die – gleich welcher Couleur – aufs Engste mit den Bossen der Energiekonzerne verwoben waren und sind. Nicht die staatlichen Institutionen, die träge und bürokratisch mehr behindert denn geholfen haben und längst nicht mehr der effektive Apparat sind, der sie einmal gewesen sind, als sie das Land nach dem Zweiten Weltkrieg auf Wirtschaftswunderkurs gesteuert haben. Und auch nicht die Medien, die lieber offizielle Beschwichtigungen verbreitet haben, als eigenständig ihrer demokratischen Wächterfunktion nachzukommen.

Auf den Straßen ist es relativ ruhig geblieben

Es entspricht nicht der japanischen Denkweise, seine Wut nach außen zur Schau zu stellen. Auf den Straßen ist es daher relativ ruhig geblieben. Die Zeiten, dass unangenehme Themen völlig verdrängt werden, sind dennoch vorbei. Vor allem junge Menschen nutzen das Internet, um ihre Verzweiflung über die Gegebenheiten hinauszuschreien. In diesem Punkt hat sich die japanische Gesellschaft entwickelt. Die Institutionen und die Politik sollten es ihr schleunigst nachtun.