Patrick S. liebte eine Frau, die seine Schwester ist. Vier Kinder hat er mit ihr gezeugt. Doch auch wenn diese Liebe tragisch ist – sie ist nicht kriminell, schreibt Hilke Lorenz.

Familie/Bildung/Soziales: Hilke Lorenz (ilo)

Stuttgart - Um es klar und deutlich zu sagen: es geht um eine Straftat ohne Opfer. Zum Verbrechen wird das Tun erst, weil es gegen ein im deutschen Strafrecht formuliertes Verbot verstößt. Patrick S. liebt oder liebte eine Frau, die seine Schwester ist. Vier Kinder hat er mit ihr gezeugt. Sie sind der lebende Beweis dafür, dass die beiden gegen das in Deutschland geltende Inzestverbot verstoßen haben. Dieses sagt, dass auch der einvernehmliche Beischlaf zwischen volljährigen Verwandten strafbar ist. Würde Patrick S. in Frankreich, Portugal oder Japan leben, dann würden seine Nachbarn wahrscheinlich auch die Nase rümpfen und sich empört abwenden. Strafwürdig wäre die Beziehung zu seiner Schwester jedoch nicht.

 

In Deutschland ist sie das. Die Straßburger Richter entschieden am Donnerstag, dass das deutsche Inzestverbot nicht gegen das Grundrecht auf Achtung des Privat- und Familienlebens verstoße, wie es Artikel 8 der europäischen Menschenrechtkonvention festschreibt. Auch hätten die Karlsruher Richter, als sie 2008 Patrick S.s Verfassungsbeschwerde verwarfen, richtig abgewogen. Der zweite Senat hatte damals in seiner Urteilsbegründung den Schutz der Familie hervorgehoben. Von seiner Intention her will das Inzestverbot die Familie als geborgenen Ort schützen, an dem es Gewissheiten und Verlässlichkeit geben muss, die nicht durch das sexuelle Überschreiten von Grenzen zerstört werden dürfen. Im Fall der Geschwister aus Sachsen war die Familie als Erziehungsgemeinschaft jedoch längst gesprengt. Darauf wies 2008 als einziger in seiner abweichenden Meinung zum Urteil des Senats der Verfassungsrichter Winfried Hassemer hin.

Kein Dammbruch

Der Vater, ein oft alkoholisierter Schläger, war schuld daran, dass das Jugendamt Patrick S. als Dreijährigen aus seiner Familie nahm und er zu Adoptiveltern kam. Er lernte seine Schwester erst kennen, als er sich im Jahr 2000 auf die Suche nach seinen Wurzeln machte. Die Liebesbeziehung wuchs, nachdem seine leibliche Mutter kurz darauf überraschend gestorben war. Der Gedanke ist nicht abwegig, dass das Wachsen dieser strafwürdigen Liebe unbewusst einsetzte, um dieser kaputten Welt eine eigene heilere Familie entgegenzusetzen. Das ist tragisch, kriminell ist es nicht. Es hätte eher einer psychologischen Betreuung bedurft als eines Schuldspruchs.

Eine Verwerfung des Inzestverbots würde zudem keinen Dammbruch auslösen. Es wäre Wahnsinn zu glauben, jemand nähme sich vor, den Bruder oder die Schwester mehr als nur geschwisterlich lieben zu wollen. Dennoch passiert es. Die Zahl ist verschwindend gering. Zehn Verurteilungen pro Jahr gibt nach Auskunft des Freiburger Max-Planck-Instituts. Wohlgemerkt: es geht nicht um den gewaltsamen sexuellen Missbrauch innerhalb der Familie. Der ist strafbar und auf jeden Fall strafwürdig. Die wenigen Fälle von Geschwisterliebe aber sind kein Fall für einen Strafrichter.