Wer wegen eines Bahnhofs zu einem Volksaufstand aufruft, der hat jedes Maß verloren. Ein Kommentar von Holger Gayer.

Chefredaktion : Holger Gayer (hog)

Stuttgart - Als Goethe vor gut 200 Jahren seinen Zauberlehrling erfand, konnte er nicht ahnen, dass dereinst Eisenbahnen übers Land und sogar unter der Erde fahren würden. Manch menschliche Eigenschaft aber erkannte der geniale Dichter damals schon: den Willen zur Macht beispielsweise, und den Rausch, der daraus entstehen kann, bis die Dinge schließlich außer Kontrolle geraten und der Zauberlehrling verzweifelt schluchzt: "Die ich rief, die Geister, werd' ich nun nicht mehr los."

 

Nun also Stuttgart21, wieder einmal. Bisweilen fehlen einem fast die Worte, wenn man hört und sieht, was in diesen Tagen gesprochen und getan wird. Die Parkschützer organisieren ein Aktionscamp, in dem Aktivisten aus Deutschland, Italien und Frankreich den zivilen Ungehorsam erst üben und danach auch praktizieren sollen. Zwischendurch ruft der Berliner Politikprofessor Peter Grottian in einer am Freitag verbreitetenen Rede, die er am Samstag auf der Demonstration gegen Stuttgart21 halten will, zum Volksaufstand auf. "Selbstermächtigend, bürgermächtig und mobilisierungsträchtig" sollten die Menschen sein, sagt Grottian und postuliert, dass nicht mehr die demokratischen Wahlen entscheidend seien, "wenn der Souverän den Aufstand probt". Die "mutmaßliche Enttäuschung über die grün-rote Landesregierung", so hofft er, könne sich für "die außerparlamentarischen Aktivisten positiv auswirken".

Krakeelen um des Krakeelens Willen

Wer sich in Anbetracht solcher Parolen an den Geist einer demokratischen Gesellschaft erinnert, der dürfte augenblicklich eine eiskalte Gänsehaut auf seinem Rücken diagnostizieren. Grottian, die Parkschützer und deren Aktivisten entfernen sich in ihrem Verbalradikalismus nicht nur mehr und mehr vom sachkundig vorgetragenen Protest, den viele Bürger bisher gegen Stuttgart21 gepflegt haben. Letztendlich konterkarieren sie auch die Bemühungen all jener, die sich um eine realisierbare und sachgerechte Lösung der Probleme bemühen. Sie krakeelen um des Krakeelens Willen und schüren die pure Lust am Aufruhr.

In Goethes Ballade vom Zauberlehrling kommt am Ende der Meister und bändigt die außer Rand und Band geratenen Besen. Wer aber könnte in Sachen Stuttgart21 den Meister geben? Winfried Hermann, der frisch gebackene Verkehrsminister, wohl kaum. Als wolle er Grottians Szenario von der mutmaßlich enttäuschenden grün-roten Landesregierung entkräften, erklärt er sich flugs für nicht zuständig, falls sich bei einem Volksentscheid eine Mehrheit für Stuttgart21 fände. Danach verbrüdert er sich am Bauzaun mit den Parkschützern, kündigt an, dass er eine große Veranstaltung zum Thema Stresstest organisieren werde und erkennt erst später kleinlaut, dass er dazu vielleicht auch mal mit der Bahn sprechen sollte. Schon als Vorsitzender des Verkehrsausschusses in Berlin war Hermann öfter als vorpreschender Lautsprecher der Opposition aufgefallen. Für das Kenntnis erfordernde Geschäft während der Geißler-Schlichtung hatten die Grünen jedoch Boris Palmer und Werner Wölfle nominiert - zurecht. Aber Ministerpräsident Kretschmann hatte sicher gute Gründe für die Benennung Hermanns...