Grüne und SPD haben dann Erfolg, wenn sie nicht nur ihre Klientel bedienen. Die Welt können sie nicht neu erfinden, meint Reiner Ruf.

Stuttgart - Grüne und SPD setzen am Mittwoch den ersten Meilenstein an den Wegrand ihres gemeinsamen Regierens. Mit der Vorstellung des Koalitionsvertrages geben sie darüber Auskunft, welches Koordinatensystem sie dem ersten grün-roten Landeskabinett zugrunde legen. Weitere Meilensteine folgen: Zunächst muss das Regierungsprogramm von beiden Parteien bestätigt werden, dann wird Mitte Mai die Wahl von Winfried Kretschmann zum Ministerpräsidenten erfolgen. Daran schließt sich die Regierungsbildung an, bevor - endlich - die ersten, vielleicht noch wackligen, sicherlich neugierigen Schritte ins Wunderland des Regierens getan werden können.

 

Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne. Für die Grünen liegt dieser Zauber darin, dass sie im Landtag zum ersten Mal nicht nur kluge Papiere verfassen dürfen, die umgehend im Papierkorb landen. Gemeinsam mit der zwar regierungsentwöhnten, aber im Südwesten nicht regierungsunerfahrenen SPD müssen sie künftig kluge Entscheidungen fällen, die am Ende entgegen ihrer bisherigen Erfahrung tatsächlich in die Lebenswirklichkeit eindringen und zu Gesetzen und Verordnungen gerinnen, wenigstens aber in einen Erlass münden.

Ein hoher Anspruch

Das verhält sich in etwa so wie der theoretische zum praktischen Fahrunterricht bei der Erlangung des Führerscheins. Klar ist, dass Grüne und SPD die Welt nicht neu erfinden können. Allerdings haben sie einen Politikwechsel angekündigt. Das ist nicht nur ein hehrer, sondern auch ein hoher Anspruch, wenn man bedenkt, dass Landespolitik gemäß der föderalen Ordnung Deutschlands nur in Teilbereichen ein eigenes Gestalten - etwa in der Bildungspolitik - zulässt, ansonsten aber getreuliches und effizientes Verwalten verlangt.

Die Grünen werden zeigen müssen, dass sie mehr darstellen als nur intellektuell begabte Agenten eines postmateriellen Lebensgefühls, das für Teile ihrer Klientel nur so lange seinen Charme behält, als es auf dem sicheren Fundament der wirtschaftlichen Absicherung gedeiht. Zur Volkspartei müssen die Grünen deshalb nicht mutieren, doch kommen sie als Ministerpräsidentenpartei nicht umhin, ihr Regierungshandeln so zu modellieren, dass es auch außerhalb ihrer Wählerschaft Akzeptanz findet - selbst wenn das in den eigenen Reihen Murren auslöst. Wie schwierig dieser Spagat ist, war beim Kompromiss zu Stuttgart 21 zu besichtigen. Wie leicht dies schiefgeht, erlebt Winfried Kretschmann mit seinen allerdings missverständlichen Äußerungen zum Autostandort. "Grün pur", das geht bei 24 Prozent der Wählerstimmen nicht.

In unterschiedlichen Milieus punkten

Die SPD wiederum sieht sich vor der Aufgabe, ihre landespolitische Nische zu verlassen, den Staub der Langeweile, der ihr nicht immer zu Recht zugesprochen wird, abzuschütteln und nach einer in Ehren überstandenen Legislaturperiode wieder an den Grünen vorbeizuziehen. Sie wird nach der Wahl Kretschmanns die einzige der vier im Landtag vertretenen Parteien sein, die im Südwesten noch nie den Regierungschef gestellt hat. Die Rivalität zwischen den beiden fast gleich starken Parteien belastet die neue Koalition, kann sie indes auch befruchten. In der Vergangenheit waren die Grünen immer dann stark, wenn die SPD schwächelte - und umgekehrt. Ein dauerhafter Erfolg winkt ihnen jedoch nur, wenn sie diese Regel durchbrechen und in unterschiedlichen Milieus punkten.

Im Spannungsfeld eines magischen Vierecks müssen sich Grüne und SPD bewähren. Dazu gehören erstens stabile Finanzen - in Süddeutschland ist das unabdingbar -, zweitens Leuchtturmprojekte für einen Politikwechsel, drittens eine gelegentliche, dosierte und respektvoll geführte Sachauseinandersetzung zwecks Schärfung des jeweiligen Parteiprofils und viertens ein solides Regieren. Die Koalitionsvereinbarung kann dazu eine Grundlage bieten. Wichtiger aber ist die geistige Grundhaltung, in der die Koalitionäre ans Werk gehen.