Der Ansatz, dass Alkoholiker lernen können ihren Konsum zu reduzieren, ist lange umstritten gewesen. Das ändert sich. Zu Besuch bei einer Nachsorgegruppe.

Stuttgart - Der Kampf hört nicht auf. Für keinen der zehn, die an diesem Abend im Gruppenraum der Suchtberatungsstelle des Klinikums einen Stuhlkreis bilden: sechs Männer und vier Frauen zwischen 43 und 73 Jahren. Es ist eine bunte Gruppe – vom Unternehmensberater bis zum Hilfsarbeiter. Alle haben das gleiche Problem: Sie sind Alkoholiker. Ein Abstinenzprogramm kommt für sie nicht infrage. Sie versuchen, über den Ansatz „Kontrolliertes Trinken“ ihre Sucht zu beherrschen. Die Therapie liegt hinter ihnen. Einmal im Monat treffen sie sich mit dem Suchtberater Harald Sichler, um zu berichten, wie es ihnen geht.

 

„Ich bin wieder ein bisschen ins Schwimmen geraten“, erzählt Martin (Namen geändert), der Älteste. Der Druck zu trinken lasse nicht nach. Martin hatte im Frühsommer 2014 mit der Therapie begonnen. Damals lag sein Level bei rund drei Liter Bier pro Tag. Mithilfe des Trinktagebuchs habe er es geschafft, seinen Konsum um zwei Drittel zu reduzieren. Er liegt also bei einem Liter pro Tag. Wobei er nur von Einheiten spricht, wie alle aus der Gruppe. Der 73-Jährige ist stolz, aber er leidet auch. Die Treffen seien wichtig für ihn. „Nicht alleine damit zu sein“, sagt er.

Aha-Erlebnis beim Gruppentreffen

Das geht Christian ähnlich, einem eloquenten Mittvierziger, Typ Kreativbranche. Auch ihm fällt es schwer, nicht in alte Muster zu verfallen. Drei trinkfreie Tage pro Woche schaffe er inzwischen. An den anderen vier Tagen kommt er auf zwölf Einheiten, rund 1,5 Liter Bier pro Tag. Von den Erfolgen seiner Sitznachbarin Isabell ist er weit entfernt. Sie hat es geschafft, seit Weihnachten radikal vom Alkohol wegzukommen. Während das Programm vorsieht, sich trinkfreie Tage einzuteilen, markiert sie sich ihre Trinktage. „Einmal pro Woche trinke ich ein Glas Wein und das genieße ich dann auch“, erzählt sie. „Das ist doch, was wir uns alle wünschen“, meint Christian. Sich zu belohnen, statt sich zu bestrafen – ein Aha-Erlebnis.

Bisher funktioniert es bei Isabell: Innerhalb von vier Wochen habe sie 6,5 Einheiten Alkohol getrunken (rund 1,3 Liter Wein), verkündet die 45-Jährige stolz. Sie war früher bei 16 Einheiten – pro Woche (rund 3,2 Liter Wein). Beim letzten Treffen hat es bei ihr Klick gemacht. Ein Appell Harald Sichlers habe den Ausschlag gegeben. Ihr Trinktagebuch führt sie weiter. In diesem wird vermerkt, wann man wie viel Alkohol trinkt, wer noch anwesend gewesen ist und was der Auslöser war.

Der Kasten Bier steht bei der Sportgruppe im Raum

Andreas hat sein Trinktagebuch dabei. Doch was er sieht, gefällt ihm nicht: „Acht Einheiten pro Woche sind mein Ziel“, sagt er. Das habe er in den vergangenen Wochen kein Mal geschafft: zwischen 10,5 und 17 Einheiten hat er notiert. Einmal habe er einen Filmriss gehabt. „Wenn ich weiß, da steht ein Bier im Kühlschrank, dann ist es weg.“ Er müsse wohl realistischer werden, meint der 43-Jährige, der jünger aussieht. Zehn Einheiten pro Woche will er nun schaffen. Isabell schaltet sich ein: „Das kenne ich, wenn die Flasche auf war, war sie leer“, erzählt sie. Sie habe sich einen kleinen Krug gekauft und fülle sich die Trinkmenge ab, die sie sich erlaubt. Auch Harald Sichler rät: „Greifen Sie zu kleinen Gläsern, definieren Sie die Menge vorher.“ Das möge zuhause funktionieren, wirft Andreas ein. „Aber wenn ich bei der Sportgruppe bin, dann steht der Kasten Bier nunmal da.“

Das ist bei Horst nicht anders. Der 55-Jährige will nicht aufhören zu trinken, das stellt er klar. Dann müsste er sein Leben zu sehr ändern. Könnte nicht mehr mit den Kumpels Fußball gucken. Seine Freunde trinken auch – inzwischen mehr als er. Beim letzten Bayernspiel habe er drei Bier getrunken, alle anderen hätten doppelt so viel intus gehabt. „Ich war mal bei 50 bis 60 Einheiten pro Woche, jetzt bin ich bei 30. Da bin ich stolz drauf“, sagt Horst. Wenn es langfristig weniger wird, wäre er zufrieden. Von den anderen erhält er Zuspruch: „Ich ziehe meinen Hut vor Dir“, sagt Isabell. Es gehe um die individuellen Ziele.

Sich festzulegen, ist das Entscheidende bei dem Konzept

Auf Unverständnis stoßen dagegen zwei Teilnehmer. Sie sträuben sich dagegen, das Trinktagebuch zu führen. „Das Buch stört mich einfach“, sagt Wolfgang, ein 65-Jähriger mit Hornbrille. „Ich finde es furchtbar, dass ich das führen soll“, sagt auch eine blonde Frau, die zugibt, dass sie mit ihrem Trinkverhalten „nicht zufrieden“ ist. Harald Sichler schaltet sich ein: „Das Festlegen ist das Entscheidende – Sie machen einen Vertrag mit sich, ohne sich festzulegen, werden Sie es nicht schaffen, Ihren Konsum zu reduzieren“, mahnt er. Christian erzählt, dass er eine App benutzt statt des haptischen Buchs. Vielleicht könnten sie das mal probieren.

Selbst Ingrid führt noch ein Trinktagebuch. Sie ist ein Sonderfall, weil sie seit Oktober abstinent ist. Zweimal ist sie im Suff schwer gestürzt: einmal brach ein Wirbel, dann das Becken. Der zweite Sturz gab den Ausschlag aufzuhören. „Stört es Sie, wenn ich komme“, fragt Ingrid. Nein, beschwichtigen alle. Sie sei eine Bereicherung.

Hintergründe zum Programm:

„Kontrolliertes Trinken“ ist lange umstritten gewesen, weil es nicht auf Abstinenz setzt. Das ändert sich. In der S3-Leitlinie der Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde, die Anfang Februar vorgestellt wurde, ist als mögliches Behandlungsziel festgeschrieben, den Alkoholkonsum zu reduzieren. Der Grund: mit Abstinenzprogrammen würden zu wenige erreicht.

In den ersten vier Wochen des Programms wird der Alkoholkonsum im Trinktagebuch nur protokolliert. Allein das führe bei mehr als der Hälfte der Teilnehmer dazu, weniger zu trinken, sagt der Suchtberater Harald Sichler. Danach setzt man sich wöchentlich Ziele, wie viel man trinken will, und versucht, auch trinkfreie Tage einzubauen. Gerechnet wird in Einheiten. Eine Einheit entspricht 20 Gramm Alkohol oder 0,2 Liter Weißwein oder 0,5 Liter Bier. Mit dem Berater wird besprochen, was Risikosituationen sind. Sichlers Erfahrung: 65 Prozent der Teilnehmer schaffen es, ihren Konsum um die Hälfte zu reduzieren.

Neue Gruppe startet

Am Klinikum startet am Mittwoch, 4. März, eine neue Gruppe „Kontrolliertes Trinken“. Vorab finden Vorgespräche statt. Mehr Informationen gibt es unter der Telefonnummer 2 78-2 93 10.