Elche, Büffel, Widder, Oryx-Antilopen und Riesenhirsche: Das Stuttgarter Naturkundesmuseum widmet sich jetzt dem Geweih. Ein Blick hinter die Kulissen der Schau.

Stuttgart - Die Schätze liegen hinter Stahltüren verborgen. Wer den Weg zu ihnen nicht kennt, würde sie an diesem Ort nicht vermuten: Bunte Werbeplakate von Autohäusern bilden ein schwer zu durchdringendes Dickicht. Vor einem Gebäude, das an ein Containerterminal im Hafen erinnert, rauchen einige Schauspieler in der Probepause vor der Schauspielbühne Nord. Doch Carsten Leidenroth lässt sich nicht beirren, er kennt den Weg, er besucht seine Schätze regelmäßig. Als er die Tür des Gebäudes aufschließt, weicht die Hitze schnell angenehmen Temperaturen, Neonlicht empfängt die Besucher. Carsten Leidenroth trägt sich in ein Buch ein: Name, Arbeitgeber, Uhrzeit – an diesem Ort muss alles seine Ordnung haben. Hier lagern Werte, die mit Geld nicht zu ermessen sind. In dem Depot des Zweckbaus unterhalb des Stuttgarter Pragsattels befinden sich Archivbestände des Linden- und des Landesmuseums. Auch das Naturkundemuseum bewahrt hier zahllose Exponate auf, die es in seiner langen Geschichte gesammelt hat und für die es weder im Schloss Rosenstein noch im Museum am Löwentor Platz gibt.

 

Carsten Leidenroth ist einer der Schatzmeister des Naturkundemuseums. Er nähert sich seinen Preziosen ohne herrschaftlichen Ausdruck. Leidenroth trägt ein T-Shirt und Sandalen, er dringt durch ein Gewirr langer Gänge immer tiefer in das Depot ein, bis er schließlich eine Halle erreicht, die mit ihren nüchternen Großregalen einem Ikea-Lager ähnelt. Doch statt dem Billy-Bücherregal lagern hier, wohltemperiert und verpackt, versteinerte Mineralien und uralte Knochen. Im Lager sieht Leidenroth, welche Ausstellungen das Naturkundemuseum zuletzt gezeigt hat, vor einem breiten Durchgang markiert ein Zettel das Thema „Sex“, doch Leidenroth ist nicht deswegen gekommen. Sein Ziel sieht er an einer Wandseite der Halle, dort füllen die Besitztümer des Naturkundemuseums etliche gitterförmige Stellwände. Von Weitem betrachtet, wirkt es, als habe ein Stachelschwein die Halle als Umkleidekabine benutzt. Spitze Verstrebungen strecken sich von den Wänden aus in den Raum, erst beim Näherkommen erschließt sich das vermeintliche Chaos: In diesem Teil der Halle lagern 1700 Geweihe.

Carsten Leidenroth sieht sich um. Ihm strecken sich die Schaufeln kolossaler Elche entgegen, die gebogenen Hörner von Widdern, die spitzen Geweihe der Oryx-Antilopen, er blickt auf den Kopfschmuck von Büffeln und Rothirschen. Jedes Exponat besitzt ein Etikett, ohne die darauf verzeichneten Informationen wäre es für die Forscher wertlos. Leidenroth nimmt das Etikett eines Gnus in die Hand, es stammt aus Afrika, kam 1896 in den Besitz des Museums und befand sich, so weist es die geschwungene Handschrift aus, einst im Besitz eines Hofrats namens Blank. „Mich fasziniert diese Formenvielfalt“, erzählt Carsten Leidenroth, „Geweihe haben eine ganz eigene Ästhetik.“ Das Naturkundemuseum bietet seinen Besuchern von diesem Donnerstag an einen Einblick in die Welt der Geweihe im Tierreich, weshalb der Präparator Leidenroth und andere Experten die für das Publikum verschlossene Kammer geöffnet und einige der Geweihe in das Naturkundemuseum am Löwentor gebracht haben.

Konkurrenz für die Dinos

Dass es zu dieser Ausstellung kommt, liegt an einem Unglücksfall. Am 7. Oktober 2007 verwandelte ein defektes Heizungsventil den Keller des Schlosses Rosenstein in eine Sauna. Dort lagerten seinerzeit die Geweihe, der Wasserschaden bedrohte die Sammlung. Bei der Rettungsaktion packten die Mitarbeiter des Museums mit an, sie schleppten die Geweihe aus dem Keller in die Säulenhalle des Schlosses. Tagelang konnten sich die Besucher des Schlosses nur auf schmalen Pfaden durch das Labyrinth der Sechs- und Achtender bewegen. Dabei stellten viele von ihnen eine naheliegende Frage: „Warum wird das eigentlich nie gezeigt?“ Diese Fragen hat das Museum Jahre nach dem Unglück zum Auftrag genommen.

Im Museum am Löwentor machen nun Hirsche und Antilopen den präparierten Dinosauriern Konkurrenz. Eines der wuchtigsten Ausstellungsstücke schaut die Besucher aus braunen Augen an, unter seinem Maul wellt sich ein Kinnbart, über den spitz aufgestellten Ohren erhebt sich ein kolossales Geweih. Es ist von Holz umrahmt und hängt vor einer geblümten Tapete, schließlich handelt es sich um kein gewöhnliches Tier, sondern um einen Promi-Elch. Prominent deshalb, weil das Tier von einem Prominenten erlegt wurde. Dafür würden viele infrage kommen: Die Mächtigen waren schon immer von der Jagd fasziniert, egal ob es sich dabei um württembergische Könige, DDR-Politbonzen oder den früheren spanischen König Juan Carlos handelte, der es sich wegen eines pompösen Jagdausflugs mit seinen Untertanen verscherzte. Der Elch im Naturkundemuseum verursachte weniger Wirbel. Robert Bosch schoss ihn am 8. September 1924 in Kanada, drei Jahrzehnte nach seinem Tod überließ seine Witwe das ausgestopfte Tier dem Naturkundemuseum.

Stefan Merker würde sich den Elch niemals in seinem Wohnzimmer an die Wand hängen. Merker leitet die Zoologie des Museums, ihn interessieren keine Trophäen, ihn faszinieren die biologischen Fakten rund um die Geweihe. Er redet über die Geweihstangen von Pampashirschen und die Hörner von Gabelböcken in demselben selbstverständlichen Plauderton, in dem andere Zeitgenossen über die Aufstellung der deutschen Nationalmannschaft diskutieren. Merker hat die Geweihe im Naturkundemuseum wie Designobjekte auf leuchtenden Glasplatten arrangiert. Doch der größte Hirsch der Ausstellung steht vollständig präpariert in einer Vitrine. Stefan Merker blickt zu ihm auf, das Tier überragt ihn mit einer Schulterhöhe von 2,10 Meter deutlich.

Der Mensch und der Hirsch

Der Leiter der Zoologie steht im Schatten des Riesenhirschs. Merker, 40, sieht in dem Tier nicht nur ein einzelnes Ausstellungsstück. Wenn er es länger betrachtet, läuft ein innerer Film vor ihm ab, in dem der längst ausgestorbene Riesenhirsch wieder zum Leben erwacht. Darin wandert das Tier über eine Krautsteppe, es frisst Wermut, Silberwurz und Zwergbirken. In manchen seiner Lebensräume wird es von jagenden Neandertalern bedroht, die aus Teilen seines Geweihs Waffen oder Schmuck herstellen. Der Riesenhirsch lebte vor 400 000 bis 7700 Jahren, auch im Großraum Stuttgart, wo ein Fundort nördlich von Ludwigsburg dem Tier seinen Namen gab: Steinheimer Steppenhirsch.

Die gemeinsame Geschichte des Menschen und der Hirsche reicht weit in die Vergangenheit zurück. Ein Teil der Faszination für die geweihtragenden Tiere hängt mit der Funktion des Kopfschmucks zusammen: „Je prächtiger das Geweih ist, desto besser schneiden die jeweiligen Tiere auch in Schau- oder Beschädigungskämpfen ab“, erzählt Stefan Merker. Außerdem steigert ein großes Geweih das Ansehen eines Hirsches bei seinen Partnerinnen.

Diese sexuelle Potenz hat den Jagdinstinkt der Menschen befeuert: „Geweihe haben in unserer Gesellschaft als Trophäe eine große Rolle gespielt“, erzählt Stefan Merker. „Sie sind ein Statussymbol, mit dem man Macht und Stolz demonstriert.“ Auf diese Weise gelangte das Naturkundemuseum auch an Teile seiner Geweihsammlung. Sie stammt aus Privatnachlässen und Schenkungen: Opas schönster Hirsch, der einst zu Hause das Wohnzimmersofa bewachte, liegt jetzt unter Neonlicht in der Museumsschatzkammer.