Sieben Jahre nach der Unabhängigkeit wartet Europas Armenhaus noch immer auf den Aufschwung. Vom nationalen Pathos haben die Kosovaren mittlerweile genug: Sie fordern stattdessen konkrete Pläne zur Belebung der Wirtschaft.

Korrespondenten: Thomas Roser (tro)

Pristina - Dumpf dröhnen die Tupan-Trommeln über den Mutter-Theresa-Boulevard in Pristina. Zu den quietschenden Klängen der Surle-Schalmei ringeln sich zum siebten Jahrestag von Kosovos Unabhängigkeit ausgelassen die Trachtengruppen. Obwohl wie jedes Jahr Tausende durch das mit Fahnen dekorierte Zentrum der Hauptstadt flanieren, macht sich bei dieser Geburtstagsfeier des Staatenneulings nur gedämpfte Freude breit.

 

Der Unabhängigkeitstag müsse gefeiert werden, denn für die angestrebte Selbstständigkeit habe der Kosovo „viel Blut bezahlt“, begründet ein Familienvater im heimischen Fernsehen sein Kommen. Doch die Ereignisse der letzten Wochen würden einen „Schatten“ über das Staatsjubiläum werfen: „Es ist einfach nicht in Ordnung, dass hier manche Millionen haben und andere nicht einmal genug fürs Brot.“

Bis zu 100.000 Auswanderer in den vergangenen Monaten

Es ist der Massenexodus der letzten Wochen, der auch die Würdenträger des Staatenneulings etwas kleinlauterere Töne bei ihren sonst vom Pathos triefenden Festreden anstimmen ließ. Über 40 Prozent der 1,8 Millionen-Bevölkerung leben unter der Armutsgrenze. 50 000 bis 100 000 Landsleute sollen laut unterschiedlichen Schätzungen Europas Armenhaus allein in den letzten Monaten den Rücken gekehrt haben, um als illegale Immigranten oder chancenlose Asylbewerber in Westeuropa ihr Glück zu versuchen.

Die Leute hätten kein Grund, Kosovo zu verlassen, „sie haben einen Grund zu bleiben“, hielt Premier Isa Mustafa dagegen. Der Parlamentsvorsitzende Kadri Veseli räumte ein, dass „die Leute nicht vor dem Luxus, sondern vor der Armut fliehen“: „Viele, die weggegangen sind, würden gerne im Kosovo leben. Wir müssen mehr für die wirtschaftliche Entwicklung tun, um illegale Migration zu vermeiden.“

Rückkehr aus Deutschland voller Frust

Auch die sich wie ein Lauffeuer und durch Mund-zu-Mund-Propaganda verbreitende Nachricht von Ungarns erstaunlich durchlässiger Schengen-Grenze hatte den Exodus der letzten Monate verstärkt. Doch die Kunde von den verstärkten Kontrollen und der Entsendung deutscher Polizisten an die serbisch-ungarische Grenze hat den Aderlass aus Kosovo in den letzten Tagen bereits spürbar versiegen lassen.

Am Busbahnhof in Pristina machen sich täglich nur noch rund hundert Reisende in Richtung des benachbarten Serbien auf – fünf bis zehn Mal weniger als noch vor wenigen Wochen. Die Zahl der aus dem Westen abgeschobenen Heimkehrer nähert sich der Zahl der abwandernden Heimatmüden. Am Nationalfeiertag trafen am Flughafen von Pristina 40 aus Deutschland abgeschobene Landsleute ein. Die meisten verbargen ihre Gesichter vor den Kameras. Manche erklärten, noch einmal ihr Emigranten-Glück versuchen zu wollen. Andere schienen über das Ende ihrer oft monatelangen Odyssee und ihre Heimkehr auch erleichtert. Drei Monate habe er in einem deutschen Auffanglager, danach weitere drei Monate in einer ihm zugewiesenen Wohnung verbracht, so ein Familienvater. Nach einem halben Jahr habe er beschlossen, freiwillig zurückzukehren: „Für uns gibt es kein besseres Land als Kosovo.“

Im Gegensatz zu den Abgewanderten und westlichen Analysten hält die Mehrheit der Daheimgebliebenen den von mittlerweile 108 UN-Staaten anerkannten Kosovo trotz aller Probleme keineswegs für einen gescheiterten Staat. Doch hat die Mehrheit seiner Landsleute laut Avni Ahmetaj, dem Kosovo-Korrespondent des TV-Senders „Aljazeera Balkan“, sieben Jahre nach der Unabhängigkeit vom nationalen Pathos genug: „Sie wollen endlich konkrete Pläne für die Belebung der Wirtschaft und die Schaffung neuer Arbeitsplätze hören.“