Ist die Beschneidung von kleinen Jungen schon deshalb gut, weil sie eine sehr alte Tradition ist? Diese Frage stellt sich unsere Kolumnistin Sibylle Krause-Burger.

Stuttgart - Gustav Wolle, mein Großvater, ein Berliner und Jude, aß gerne Schinken vom Schwein und ging nicht in die Synagoge. Die Gesetze der Thora betrachtete er mit mildem Spott. Aber natürlich war er beschnitten. Ebenso wie seine beiden völlig assimilierten Söhne, die mit der Religion ihrer Vorväter ebenfalls nichts mehr am Hut hatten. Dem uralten Ritual hatte sich die Familie dennoch unterzogen. Ganz sicher mehr aus kulturellen denn aus religiösen Gründen. So viel Judentum, immerhin, musste damals, in der Zeit vor dem Dritten Reich, noch sein. Man gehörte halt dazu.

 

Wenn in unserem später protestantisch geprägten Haus davon die Rede war, erklärte die Mutter, die alten Juden hätten das Verfahren aus hygienischen Gründen erfunden. Von dem Bund mit Gott, den das Opfer des Zipfelchens besiegeln soll, sprach niemand. Ich glaube, sie wussten gar nichts davon. Heute wissen es alle. Es steht ja jeden Tag in der Zeitung, schallt auch über alle Sender, seit die Kölner Richter den Akt der Beschneidung eines muslimischen Jungen als Körperverletzung einstuften. Bis dahin nahmen wir es einfach hin, dass Jungen beschnitten wurden – gedankenlos und tatenlos wie meine Vorfahren. Jetzt sind alle hellwach in dieser Frage. Sogar die Kanzlerin musste sogleich ihren Senf dazu geben. Der innere Friede zwischen Mehrheitsgesellschaft und religiösen Minderheiten droht ja zu zerbrechen. Schließlich geht es um etwas, das den Menschen heilig ist – um die göttliche Wahrheit.

Der deutsche Staat steckt mächtig in der Klemme

Das Problem ist nur, dass die Wahrheit der einen sehr oft die Wahrheit anderer widerlegt. Im schlimmsten Fall führt das zu Mord und Totschlag. Die Geschichte ist voll von solchen religiös untermauerten oder überhöhten Gemetzeln. In unserem aktuellen Fall stehen alte Gewohnheiten von Juden und Moslems gegen das Recht auf körperliche Unversehrtheit nach Art. 2 Absatz 2 unserer Verfassung. Damit steckt der deutsche Staat mächtig in der Klemme. Was juristisch eindeutig erscheint, die strafrechtlich zu verfolgende Körperverletzung an kleinen Jungen, ist politisch höchst anstößig.

Undenkbar, dass in dem Land, das Auschwitz zu verantworten hat, das jahrtausendealte Ritual der jüdischen Beschneidung strafbar sein soll. Undenkbar ebenso, die empfindsamen Moslems mit einem Verbot dieser Sitte auszugrenzen. Es muss also eine Möglichkeit gefunden werden, die Sache in den Ruhezustand zurückzuführen, in dem sie bis zu dem Kölner Urteil verharrte.

Geht es auch um Vereinnahmung und Unterwerfung?

Bis dahin wird man jedoch nachdenken und ein paar Fragen stellen dürfen. Zuallererst die, ob ein Brauch nur deshalb gut ist, weil er schon Jahrhunderte oder Jahrtausende gepflegt wird. Die Unterdrückung, Erniedrigung und Ausbeutung von Frauen – heute sogar bei uns in manchen islamischen Familien noch zu entdecken – ist ebenfalls uralt. Aber wir gehen dagegen vor.

Und weiter: obwohl die patriarchalischen Zeiten längst vorbei sind, schließen auch bei den modernen Juden nur die Jungen den Bund mit Gott. Warum nicht die Mädchen? Glücklicherweise, wird man sagen, denn ihnen bleiben vergleichbare, aber viel folgenschwerere Rituale und fürchterliches Leiden erspart. Aber doch nur, weil sie im Verhältnis zu Gott offenbar keine Rolle spielen. Könnte man also nicht im Umkehrschluss und unter moderneren, gleichberechtigten Gesichtspunkten sagen: wenn die Mädchen kein Hautopfer bringen müssen, weshalb wird es dann den Jungen abverlangt?

Und wenn wir den lieben Gott und den lieben Allah einmal beiseite lassen und uns anschauen, worum es den Menschen ging, die solche Rituale erfunden haben, dann fallen mir Begriffe wie Vereinnahmung und Unterwerfung ein. Und zweifelsfrei geht es bei den entsetzlichen Genitalverstümmelungen von Frauen, deren Strafwürdigkeit bei uns eindeutig ist, um die Unterwerfung der Frau. Sie soll keine Lust empfinden und nur die Sklavin des einen und einzigen Mannes sein.

Ist das wirklich mit der Würde des Menschen vereinbar?

Ist das im Falle der Beschneidung des männlichen Kindes völlig anders? Nicht ganz. Auch der jüdische Junge wird vereinnahmt und unterworfen. Allerdings nicht nur von einem Patriarchen, sondern von einer Gemeinschaft – auch wenn der Akt dem jüdischen Glauben zufolge von Gott gefordert wird. Was da geschieht, heißt: jetzt gehörst du ein für alle Mal und unverrückbar zu uns. Ermächtigt und gezähmt zugleich. Eine blutige Taufe. Das moslemische Pendant wäre dann eine blutige Kommunion oder Konfirmation, ein Initiationsritus. Der wird, im Gegensatz zur Säuglingsbeschneidung, bewusst erlebt und erlitten. Es handelt sich um Kinder, die schon denken, aber nicht selbst bestimmen, geschweige denn sich wehren können.

Peanuts, sagen nun viele. Was geht uns das an? War doch schon immer so. Und wollen wir vielleicht, wie die Kanzlerin wegwerfend meinte, zur „Komikernation“ mutieren, indem wir uns kümmern? Aber vielleicht geht es hier doch um Grundsätzliches, um das elementare Recht von kleinen und sehr hilflosen Wesen, die man wie Prinzen aufzäumt, um ihnen anschließend die Hose herunterzuziehen und die Vorhaut abzuschneiden. Ist das wirklich mit der Würde des Menschen vereinbar? Kann man im 21. Jahrhundert nicht auch ohne solche Prozeduren ein guter Jude und ein guter Moslem sein?