Im Vorfeld der Fußball-Weltmeisterschaft erhöhen in Brasilien die Gewerkschaften und die Wohnungslosen den Druck. Man spekuliert darauf, dass die Regierung vor den Augen der Welt eher den Forderungen nachgibt.

Rio de Janeiro - Kurz vor der Fußball-Weltmeisterschaft baut sich in Brasilien eine neue Welle der Proteste auf. In zehn großen Städten kam es zu Demonstrationen und Streiks. Anders als bei der Massenbewegung im vergangenen Jahr sind es jedoch vor allem Interessengruppen wie Gewerkschaften und Obdachlosenvereine, die die Gunst der Stunde nutzen, um ihren Forderungen Gehör zu verschaffen. Was nicht heißt, dass das friedlich verläuft.

 

In Rio de Janeiro fuhr am Donnerstag nur etwa ein Viertel der knapp 9000 Omnibusse wegen eines Streiks. Nach Angaben des Verbands der 43 Bus-Unternehmen, die die Konzessionen für die Linien der Sechs-Millionen-Metropole haben, wurden 467 Busse beschädigt. Dies geschah nicht durch die Fahrgäste, die 2013 gegen die Höhe der Fahrpreise protestiert hatten, sondern von Angehörigen einer gewerkschaftlichen Splittergruppe, die den Streik ausgerufen hatte, um 40 Prozent mehr Lohn zu fordern. Erst im März hatten sich die brasilianischen Tarifpartner auf zehn Prozent mehr Lohn geeinigt.

Wohnungslose besetzen Zentralen von Baufirmen

In São Paulo besuchte Präsidentin Dilma Rousseff am Donnerstag das Itaquerão-Stadion, in dem das Eröffnungsspiel stattfinden wird. Die Anwesenheit der Staatschefin in dem Stadion, das erst in letzter Minute fertig werden dürfte, sollte die allgemein eher düstere Stimmung aufhellen. Aber das wurde durchkreuzt durch Proteste. Ein Verein von Obdachlosen und die Landlosen-Bewegung MST besetzten die Firmenzentralen von dreien der großen Tiefbau-Konzerne. Sie forderten mehr staatliche Mittel für den sozialen Wohnungsbau und protestierten gegen die Ausgaben für die Stadien. Der Presse zufolge haben allein die drei zeitweilig besetzten Firmen – die Demonstranten zogen nach kurzer Zeit wieder ab – Stadien für 2,1 Milliarden Euro gebaut.

Präsidentin Rousseff traf sich danach mit Vertretern der Besetzer und sagt zu, die Lage von Wohnungslosen prüfen zu lassen, die vergangenes Wochenende ein Gelände nahe dem Stadion besetzt hatten. Das Itaquerão steht wie eine Insel des Wohlstands im armen, dicht besiedelten Osten von São Paulo, wo die niedrigsten Durchschnittseinkommen der Stadt registriert werden. Einen knappen Kilometer von dem 350 Millionen Euro teuren Stadion entfernt leben 300 Familien ohne Stromanschluss und Abwasserentsorgung.

Die Welt schaut auf Brasilien

Während sich bei der spontanen Protestwelle im Juni 2013 kaum Leitungs- und Führungsstrukturen ausmachen ließen, sind die jetzigen Demonstrationen eindeutig organisiert. Die Proteste in den zehn Städten am Donnerstag – von Manaus im Norden bis nach Florianópolis im Süden – hatten meist entweder Lohnerhöhungen zum Ziel, oder sie forderten Wohnraum. Die Zeit ist günstig für derart motivierte Proteste. Knapp fünf Wochen vor dem Anpfiff erhalten Tarifkonflikte und soziale Forderungen hohe Sichtbarkeit; sogar die internationale Presse berichtet darüber. Auch die Bereitschaft vor allem der öffentlichen Hände, relativ weitreichende Zugeständnisse zu machen, ist in den Wochen vor der Weltmeisterschaft größer als sonst.

Hinzu kommt, dass am 5. Oktober in Brasilien gewählt wird. Der Wahlkampf nimmt zurzeit Fahrt auf – auch das ein gutes Klima für soziale Forderungen aller Art. In den kommenden Tagen wollen die Lehrer und die Mitarbeiter der Gesundheitsverwaltung in Rio über einen möglichen Streik entscheiden. In Curitiba hatten die amtlichen Dengue-Fieber-Bekämpfer die Arbeit zeitweilig eingestellt. Sogar bei der Polizei von Rio denkt man über Arbeitsniederlegung nach.