Direkte Kriegserlebnisse haben selbst nach mehr als 60 Jahren „einen negativen Effekt auf das psychische Wohlbefinden“, so eine Studie. Ein Kongress in Münster befasst sich ab Freitag mit dem Thema.

Familie/Bildung/Soziales: Hilke Lorenz (ilo)

Stuttgart - Vergangenen Mittwoch in Dresden: „Ich will, dass das niemals wieder passiert“, sagte einer der Kundgebungsteilnehmer, die in der Elbestadt an die Bombardierung Dresdens im Februar 1945 erinnern und der Kriegstoten der Stadt gedenken. Der alte Mann weiß, wovon er spricht: Er hat Bomben und Feuersturm erlebt. Er weiß, wie das ein Leben prägen kann. Und er ist damit nicht alleine. Er steht mit seinen Erfahrungen und Prägungen für eine ganze Generation. Sie wird mittlerweile in Forschung und Öffentlichkeit die „Kriegskinder-Generation“ genannt.

 

Die Gesellschaft hat zwar einen Begriff für die Menschen gefunden, die den Zweiten Weltkrieg als Kinder erlebt haben. Doch hat sie auch verstanden wie stark dieses Thema bis in die Gegenwart hineinwirkt? Ist neben der erinnerungspolitischen Verankerung von Nationalsozialismus und Kriegsgrauen auch das Verständnis gewachsen, dass es die Notwendigkeit gibt, das Leiden der Betroffenen auch als echtes Leiden zu verstehen? Und reagiert die Gesellschaft etwa in der Pflege und in der Begegnung mit alten Menschen darauf auch adäquat? Und ist damit auch das allgemeine Wissen darüber gewachsen, dass Kriege – egal ob sie in Syrien, Russland oder in Deutschland ausgetragen werden – noch Jahrzehnte nach ihrem Ende weiterwirken?

Negativer Effekt noch nach mehr als 60 Jahren

Ein interdisziplinärer Forscherverbund aus Psychiatern, Psychologen, Medizinern und Historikern hat sich bereits 2005 in Frankfurt/Main zu einem ersten internationalen Kongress zum Thema getroffen. Nun kommen die Experten von Freitag an in Münster wieder zusammen, um Bilanz zu ziehen über den gesellschaftlichen und therapeutischen Fortschritt des vergangenen Jahrzehnts.

Denn eine Studie aus dem Jahr 2005 unter Mitwirkung des Medizinsoziologen Elmar Brähler von der Universität Leipzig beweist: die Generation der zum Zeitpunkt der Studie 60- bis 70-Jährigen ist häufiger krank als die vor ihr und die nach ihr. Direkte Kriegserlebnisse haben selbst nach mehr als 60 Jahren „einen negativen Effekt auf das psychische Wohlbefinden“, so die Studie. Der Frankfurter Psychotherapeut Werner Bohleber formuliert noch eine weitere wichtige in die Zukunft reichende Erkenntnis aus seiner Arbeit: „Wir wissen, dass sich Traumata dieser Art nicht in einer Generation bewältigen lassen.“

Das drückt sich im alltäglichen Leben aus: Die Kieler Ärztin Helga Spranger, die früh auf die Problematik aufmerksam geworden ist und Seminare für Betroffene und deren Kinder anbietet, beobachtet bei ihren Klienten ein „exzessives Durchhalteverhalten bei Belastungen, das zu psychosomatischen Störungen führt“. Nicht selten haben diese Patienten Herzprobleme, weil sie nicht in der Lage sind loszulassen und sich zu entspannen, erklärt die Ärztin.

Traumatische Erfahrungen können im Alter wieder aufbrechen

Der Gerontologieprofessor Gereon Heuft an der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie der Universitätsklinik Münster weist darauf hin, dass traumatische Erfahrungen im Alter wieder aufbrechen und die körperliche Unversehrtheit bedrohen können. Er betont die Übertragbarkeit der Erkenntnisse der deutschen Kriegskinder-Forschung auf Ereignisse in anderen Ländern. In jedem Land, in dem aktuell Krieg geführt werde, „machen Kinder und Jugendliche vergleichbare Erfahrungen“, so Heuft. „Und wir sehen hier in Deutschland, wie diese Erfahrungen weiterwirken.“

Schaut man sich das Tagungsprogramm des Kongresses an, wird deutlich, dass sich im theoretischen Therapieverständnis im vergangenen Jahrzehnt enorm viel getan hat. Mehrere Workshops beschäftigen sich mit der Frage, welche Bedeutung Kriegskindheiten für die Versorgung von Alterspatienten haben. Nimmt man jedoch die Bereitschaft, Forschungsprojekte auf diesem Gebiet in großem Stil zu finanzieren, als Gradmesser für den Fortschritt, kommt man zu einer wesentlich nüchterneren Einschätzung. Die großen Stiftungen haben sich bisher nicht engagiert. Gebündelt wurden die Arbeiten einzelner Wissenschaftler der unterschiedlichen Disziplinen in den Jahren 2004 und 2005 am Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen. Der nordrhein-westfälische Landesvater Johannes Rau – selbst Kriegskind – stand dem Unterfangen wohlwollend gegenüber. „Aber wir haben nie einen großen Geldgeber gefunden“, sagt Gereon Heuft enttäuscht.

Der Kongress ist auch eine Aufforderung, die letzte Chance zu ergreifen, und sich den seelischen Verwerfungen von Kriegshandlungen zu widmen. Die Ärztin Helga Spranger sagt es deutlich: „Von diesem Kongress muss ein Signal an die Gesellschaft ausgehen.“ Spranger misstraut der deutschen Erinnerungskultur, die viele für gelungen halten. Sie bemängelt, dass die Erfahrungen der Kriegskinder Erzählungen geblieben, nicht aber zur emotionalen Wahrheit geworden sind. „Wir hätten doch wenigstens aus der eigenen Geschichte lernen können.“ Wie sehr etwa die deutschen Flüchtlinge in den Lagern gelitten hätten – Spätfolgen inklusive. Im Umgang mit Kriegsflüchtlingen habe sich bis heute nichts geändert. „Das soll sich nie wiederholen“, hat der alte Mann in Dresden gesagt. Er hat damit eine Botschaft an Vernunft und Menschlichkeit formuliert.