Baden-Württemberg: Heinz Siebold (sie)

Hat das Unrechtsbewusstsein abgenommen?
Ja, das nennen wir Neutralisierungen: Man stimmt Normen zwar im Allgemeinen zu, relativiert sie aber in bestimmten Situationen für sich. Zum Beispiel: man darf nicht stehlen oder lügen. Aber für den konkreten Fall gibt es Ausreden für ein reines Gewissen, zum Beispiel man habe ja niemandem direkt geschadet.

Aber ist das typisch für Alte?
Das haben wir in der zweiten Untersuchung geprüft. Die ganz Alten sind noch mit strengen Normen erzogen worden: Man stiehlt nicht. Und das gilt immer. Entschuldigungen und Rechtfertigungen kommen selten vor. Die jüngeren Alten sind anders, sie finden Regelverstöße zumeist weniger schlimm, sie haben mehr Verständnis, sie relativieren Normen, sie sind bereits stärker vom allgemeinen Wertewandel erfasst. Aber natürlich ist das eine gesamtgesellschaftliche Entwicklung.

Zur Klarstellung: Wir sprechen jetzt von den sogenannten Best Agers, von Leuten, die nach dem Zweiten Weltkrieg geboren und in der Bundesrepublik geprägt wurden. Wo zeigt sich der Wertewendel am deutlichsten?
An der individuellen Normauslegung. Jeder legt selber fest, ob ein Regelverstoß schlimm ist oder vertretbar, jeder ist sein eigener Richter und Anwalt. Die sozialen Normen werden „flexibel“ angewendet. Der Wertewandel hat eben zwei Seiten, mehr Toleranz ist ja eigentlich gut, aber sie wirkt sich auch auf die Bewertung aus, ob jemand geschädigt wird oder nicht.

Ist das der Grund, dass die „weichen“, nicht die harten Straftaten zugenommen haben?
Einer der Gründe, ja. Häufig wird mit Rechtfertigungen bestritten, dass überhaupt Schaden entsteht. Steuerhinterziehung trifft ja „nur den Staat“, Versicherungsbetrug „nur den Konzern“, alles nicht so schlimm. Oder man zieht sich darauf zurück, dass das ja sowieso alle machen.

Unterscheiden sich Männer und Frauen?
Männer sind auch im Alter noch auffälliger als die Frauen, allerdings weniger stark als jüngere Männer im Vergleich zu jüngeren Frauen. Andererseits gleichen sich die begangenen Delikte der Geschlechter an. Jüngere Männer sind noch aggressiver, das gibt sich mit zunehmendem Alter. Frauen bleiben sich in der Deliktstruktur treu, sie begehen Betrugs- und Vermögensdelikte. Es hängt auch mit den Gelegenheiten zusammen, Straftaten überhaupt zu begehen. Trunkenheit am Steuer kommt bei alten Frauen viel weniger vor, weil viele keinen Führerschein haben. Das wird sich ändern.

Werden Alte kriminell, weil sie arm sind?
Dafür haben wir keine nennenswerten Hinweise gefunden. Auffällig sind vor allem Leute, denen es wirtschaftlich gar nicht schlecht geht, Ältere, die noch ordentliche Renten und Pensionen haben. Insofern kann man eher so etwas wie Geiz und Gier als – unbewusste – Motive vermuten. Es gibt auch bei ihnen die weit verbreitete Haltung: „Das machen doch alle so. Ich bin doch nicht blöd!“ Wichtige Sozialisationsinstanzen wie Schule und Elternhaus haben zunehmend Probleme, allgemeingültige soziale Normen wirksam zu vermitteln. Und die Medien, die ja von großer Bedeutung gerade für junge Menschen sind, wirken auch überwiegend kontraproduktiv. Man kann zunehmende Entsolidarisierung und eine starke Individualisierung beobachten – jeder ist sich selbst der Nächste.