Vor sieben Jahren waren die Türkei und China die Nationen mit dem weltweit größten Wirtschaftswachstum. Mittlerweile schrecken Strukturschwächen und politische Turbulenzen immer mehr ausländische Geldgeber ab, am Bosporus zu investieren.

Istanbul - Die Beziehungen der Türkei zu Europa stürzen von einem Tiefpunkt in den nächsten. Mit immer neuen Provokationen fordert Staatschef Recep Tayyip Erdogan die europäischen Partner heraus. Die politischen Verwerfungen gefährden auch die Wirtschaft, denn die Europäische Union ist der wichtigste Handelspartner und der größte ausländische Investor für die Türkei.

 

Türk Hava Yollari (THY), die halbstaatliche Fluggesellschaft, die unter der Marke Turkish Airlines fliegt, war lange vom Erfolg verwöhnt. Zwischen 2012 und 2015 stiegen die Passagierzahlen von 39 auf mehr als 61 Millionen an. Doch jetzt ist THY im Sinkflug. 2016 schrieb das Unternehmen mit umgerechnet 11,8 Millionen Euro Minus den ersten Verlust seit 17 Jahren. 30 Flugzeuge sind eingemottet, 22 Ziele wurden aus dem Flugplan gestrichen. Einst ein leuchtendes Beispiel für den ungestümen wirtschaftlichen Aufschwung der Türkei, wird die Airline jetzt zum Symbol des Niedergangs.

Die Wirtschaft war früher Erdogans Trumpfkarte. In seinen elf Jahren als Premier (2003 bis 2014) verdreifachte sich das Pro-Kopf-Einkommen. Mit dem Präsidialsystems, über das die Wähler am 16. April in einem Referendum abstimmen sollen, so verspricht Erdogan, kämen politische Stabilität und Wohlstand zurück. Bis 2023, wenn sich die Gründung der Republik zum 100. Mal jährt, will er die Türkei unter die zehn größten Wirtschaftsnationen der Welt führen. Dass er dieses Ziel erreicht, wird aber immer unwahrscheinlicher.

Arbeitslosenquote erreicht den höchsten Stand seit 2010

Lag die Türkei beim Wirtschaftswachstum 2010 noch mit China an der Weltspitze, schwächelt die Konjunktur bereits seit einigen Jahren. Die Hauptgründe: Immer wieder aufgeschobene Strukturreformen, ein schwaches Bildungs- und Ausbildungssystem, mangelnde Innovationskraft der Industrie, eine zu geringe Wertschöpfung und massive Kapitalabflüsse. Das Pro-Kopf-Einkommen, das 2015 bei 12 400 Dollar (11 500 Euro) lag, wird in diesem Jahr voraussichtlich auf 9100 Dollar fallen. Im dritten Quartal 2016 schrumpfte das Bruttoinlandsprodukt (BIP) um 1,8 Prozent. Die Inflation stieg im Februar erstmals seit fünf Jahren wieder über die Zehn-Prozent-Marke, die Arbeitslosenquote erreichte im Januar mit 12,7 Prozent den höchsten Stand seit sieben Jahren.

Zu den Strukturschwächen sind längst auch politische Turbulenzen hinzugekommen. Die militärische Verstrickung der Türkei in den Syrienkonflikt, die Bedrohung durch den Terror, die „Säuberungen“ seit dem Putschversuch vom vergangenen Juli, die innenpolitische Polarisierung vor dem Verfassungsreferendum und der sich täglich verschärfende Streit mit den europäischen Partnern verunsichern Investoren und Anleger. Bereits im vergangenen Jahr gingen die ausländischen Investitionen um ein Drittel zurück – alarmierend für ein Land, das in hohem Maß auf ausländisches Kapital angewiesen ist.

Experten erwarten Stagnation der Wirtschaftsleistung

Die Ökonomen der Berenberg Bank erwarten, dass die türkische Wirtschaft in diesem Jahr mit einem Minus von 0,1 Prozent stagnieren wird. Die Türkei sei „gefangen zwischen einer gefährlichen Abhängigkeit von ausländischem, kurzfristig gebundenem Kapital und einer gesellschaftlichen Polarisierung, die immer mehr ausländische und heimische Kapitalgeber, Verbraucher und Touristen verschreckt“, analysiert Berenberg-Volkswirt Wolf-Fabian Hungerland. „Seit Präsident Erdogan vor etwa dreieinhalb Jahren immer mehr Macht auf sich konzentriert, steigt die Sorge über die Investitionssicherheit in dem Land“, sagt Hungerland. Denn ohne ordentliche juristische und gesellschaftspolitische Gegengewichte könne die Macht in wenigen Händen schnell zum Kontrollverlust führen, so der Berenberg-Ökonom.

Mit seiner Konfliktstrategie gegenüber Europa riskiert Erdogan die Zukunft der türkischen Wirtschaft. Mehr als die Hälfte der türkischen Exporte gehen in die EU, aus deren Staaten auch die meisten Investitionsgelder in die Türkei fließen. Deutschland ist der größte Handelspartner der Türkei, der wichtigste Absatzmarkt für türkische Exporte und knapp hinter China der bedeutendste Lieferant. Mit mehr als 6700 Firmen im Land gehören die Deutschen außerdem zu den wichtigsten Investoren. Aber jetzt gebe es eine „Investitionszurückhaltung“, heißt es beim deutschen Maschinenbauverband VMDA. Der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK) berichtet, die Geschäftsanfragen bei der Deutschen Außenhandelskammer in der Türkei hätten sich 2016 halbiert.

Auch für den Türkei-Tourismus spielten die deutschen Gäste früher eine Hauptrolle. Wegen der Terrorwelle und der politischen Turbulenzen verzeichnete die Reisebranche aber bereits 2016 einen schweren Einbruch. Nach Ermittlungen des Marktforschungsunternehmens GfK lagen die Türkei-Buchungen Ende Januar um 58 Prozent unter den bereits schwachen Vorjahreszahlen. Erdogans Tiraden über deutsche „Nazi-Methoden“ sind keine gute Werbung. Auch die Niederlande sind ein wichtiger Markt für die Türkei, sowohl bei den Exporten als auch im Tourismus. Die Niederländer stellten 2016 die fünftgrößte ausländische Urlaubergruppe. Dass Erdogan ihnen jetzt einen „verdorbenen Charakter“ bescheinigt, dürfte ihre Türkei-Reiselust kaum steigern.