In einem halben Jahrhundert Sozialismus haben die Kubaner gelernt, kreativ zu sein. Die Wirtschaftsreformen der sozialistischen Regierung bringen auf der Karibikinsel ungewöhnliche Jobs hervor.

Korrespondenten: Klaus Ehringfeld (ehr)

Havanna - Ein bisschen komisch fühlt sich Guillermo Rodríguez noch in seiner neuen Rolle. „Ich bin jetzt mein eigener Herr, habe Angestellte und muss Steuern zahlen.“ Rodríguez, ein kräftiger Afrokubaner Anfang 50, steht in seinem Geschäft zwischen Kleidern, Hüten und Masken. Seine Frau Silvia und er haben sich erst vor ein paar Monaten einen Traum verwirklicht. „Casa Oshun Lade, Atelier de Ropas religiosas“ steht in goldenen Lettern über dem Eingang an einer lauten Straße im Zentrum von Havanna. Hier schneidern die Rodríguez religiöse Mode.

 

Zahl der Kleinstunternehmer wächst rasant

Die Eigentümer sind Anhänger des Santería-Kults, einer afrokubanischen Religion. „Wir verdienen jetzt unser Geld mit dem, was wir früher nach Feierabend für unsere Kirche gemacht haben“, sagt Guillermo, der acht Näherinnen beschäftigt. Die Rodríguez sind „Cuentapropistas“, Kleinunternehmer, die auf eigene Rechnung arbeiten und so von der wirtschaftlichen Öffnung auf der  kommunistischen Insel profitieren. Seit die Regierung vor drei Jahren die Selbstständigkeit ins Leben rief, schießen die Kleinstunternehmer wie Pilze aus dem Boden. Vor allem Restaurants, Cafeterien und Pizzabäckereien florieren. Aber wer die Straßen von Havanna entlangläuft, stößt in fast jedem Haus auf einen neuen Selbstständigen: Ein Selfmade-Uhrmacher wechselt Batterien, Jungen füllen Einwegfeuerzeuge auf. Eine Hausfrau verkauft auf der Türschwelle Blumen. Beliebt sind Souvenirshops mit Revolutionsdevotionalien, Postkarten mit dem Konterfei von Fidel Castro und Che Guevara gehen am besten.

Mittlerweile sind 201 Berufszweige entstaatlicht

Ende September gab die Regierung weitere 18 Berufe frei. Seitdem können auch Tischler, Klempner, Elektriker und sogar Makler, Agrargroßhändler und Verkäufer von Telefonmaterial auf eigene Rechnung wirtschaften. Damit steigt die Zahl der entstaatlichten Berufszweige auf 201.

Alles begann im August 2010 mit der Rede von Präsident Raúl Castro. „Kuba ist das einzige Land auf der Welt, in dem man leben kann, ohne zu arbeiten. Davon müssen wir uns verabschieden“, sagte der kleine Bruder vom großen Fidel vor der Nationalversammlung. Sätze, die man so noch nie gehört hatte auf der Insel.

Nur noch 77 Prozent der Kubaner arbeiten beim Staat

Fortan verzichtete der Staat auf sein Monopol, alleiniger Arbeitgeber aller Kubaner zu sein. Die Regierung erlaubte private Klein- und Kleinstbetriebe mit Angestellten. Die Kehrseite: Hunderttausende wurden auf die Straße gesetzt. Denn der Staat, bis zu diesem Zeitpunkt Arbeitgeber für 95 Prozent der fünf Millionen Werktätigen, war nicht mehr in der Lage, seinen Angestellten die umgerechnet rund 20 Euro Lohn pro Monat zu zahlen.

Die Regierung baute darauf, dass sich die Masse der Entlassenen als Selbstständige einen neuen Job sucht, Steuern zahlt und gleichzeitig die Wirtschaft ankurbelt. Die Rechnung geht allmählich auf. Seit Castro II. die Reformen verordnet hat, haben sich 429 000 Kubaner selbstständig gemacht. Nur noch 77 Prozent arbeiten bei Vater Staat. Auch Silvia und Guillermo Rodríguez haben die Chance genutzt.

Oscar und Julia stehen für fünf Peso Schlange

In einem halben Jahrhundert Sozialismus haben die Kubaner gelernt, kreativ zu sein, und machen sich daher nun in Berufen selbstständig, die nicht explizit erlaubt, aber auch nicht unbedingt verboten sind. So findet man in Havanna Schlangensteher, Privatdetektive, Hundepfleger, Psychologen, Sprachlehrer, Selfmade-Optiker und sogar Geldeintreiber.

Oscar und Julia etwa nennen sich „Tramitadores“, was man mit „Abwickler“ oder „Erlediger“ umschreiben könnte. Für 15 konvertible kubanische Peso, die ungefähr elf Euro entsprechen, übernehmen sie die Formalitäten für eines der begehrten Visa für die USA. José bietet mit seiner Frau Tagesausflüge für Touristen in die Umgebung von Havanna an. So weit, so gut. Nur nehmen sie dafür den Bus des Staatsbetriebs, in dem José arbeitet, kaufen den Diesel auf dem Schwarzmarkt und berechnen den Urlaubern für den Trip 30 Euro.

Ob kapitalistischer Unternehmer oder nicht: für die meisten Kubaner hat das nichts mit ihrer Überzeugung zu tun. „Klar bleibe ich Sozialist“, sagt Schneider Rodríguez. „Die Errungenschaften unserer Revolution sind doch unbestreitbar.“