Trotz Schneegestöbers feierte am Samstag das Ruhrgebiet mit einem Fest unter freiem Himmel die Ernennung zur Kulturmetropole Europas.

Essen - Herbert Grönemeyer hat eine wunderbare Hymne für das Ruhrgebiet geschrieben. Sie ist anrührend, weil ehrlich verliebt, sie findet leidenschaftliche Bilder für einen Kohlenkoloss. Diese Hymne, das Lied "Bochum" hat Grönemeyer vor 25 Jahren veröffentlicht. "Du bist keine Schönheit" heißt es in diesem Lied, "vor Arbeit ganz grau." Aber für derart verrußte Zeilen ist im strukturgewandelten Ruhrgebiet ein Vierteljahrhundert später kein Platz mehr.

Also musste Herbert Grönemeyer für die Kulturhauptstadt Ruhr 2010 eine neue Hymne schreiben. "Komm zur Ruhr" heißt sie, und bei der Eröffnungsfeier des Festivals steht Grönemeyer im Schneetreiben auf der improvisierten Bühne bei der ehemaligen Kokerei der Essener Zeche Zollverein und schaut entrückt gen Himmel. Dann singt er, wie das Ruhrgebiet so sei: "Wo ,woher' kein Thema ist, man sich mischt und sich nicht misst." Der Percussionist trotzt den Schneeflocken, die auf seine Congas rieseln, die Bochumer Symphoniker schwelgen streichersatt aus industriellem Gestänge heraus, und der Chor klingt gut. Aber der Songschreiber Herbert Grönemeyer bleibt mit dem kitschig-naiven Liedchen vom neuen Ruhrgebiet, in dem alte Werte zählen, weit unter seinen künstlerischen Möglichkeiten.

Aber er trifft zum Abschluss eines Festakts vor 1200 bibbernden Zuschauern in roten, blauen und gelben Regenponchos exakt den Ton, mit dem das postindustrielle Ruhrgebiet von offizieller Seite gepriesen wird. "Im Ruhrgebiet gibt es viel zu entdecken", sagt Bundespräsident Horst Köhler zur Eröffnung, "vor allem liebenswerte Menschen, bodenständig und direkt". Köhler lüpft freundlich den Hut, dann flitzen streuende und schippende Helfer über die Bühne, und José Manuel Barroso, der Präsident der EU-Kommission steigt hinter das vom Schnee umtoste Pult, um Sätze zu formen, die klingen, als seien die dem neuen Grönemeyer-Song entlehnt: "Der Kohlenpott ist ein Meltingpot der Völker und der Kulturen." Schließlich Jürgen Rüttgers, der Landesvater: "Hier weiß man, was es heißt, weltoffen zu sein."

"Wir waren Kohle, wir waren Staub, wir sind Feuer"


Ein Lauscher vom Mars könnte nach all den Eröffnungsreden der Europäischen Kulturhauptstadt tatsächlich glauben, das Ruhrgebiet bestünde aus einer Ansammlung guter Menschen, die nichts sehnlicher erwarten als die kulturelle Befruchtung aus der großen, weiten Welt. Da klingen die Reime der beiden Rapper des Hip-Hop-Duos Creutzfeld und Jakob geradezu erfrischend provinziell: "In Herne bin ich immer wieder gerne." Doch schon erscheinen Schriftzeichen auf den Videowänden, die von der erfolgreichen Identitätssuche künden, während ein Saxofonist nach Spuren sucht: "Wir waren Kohle, wir waren Staub, wir sind Feuer", liest man. Gleich zischen Flammenfontänen aus dem Industriedenkmal Zeche Zollverein. Anschließend wird bei diesem - ja doch - rasanten Eröffnungsfestakt viel von dem auf die Bühne getanzt, was mit dem Motto dieser Kulturhauptstadt zu tun hat: "Wandel durch Kultur - Kultur durch Wandel".

Arbeiter trommeln auf Stahl, Businesstypen hocken mit ihren Aktenköfferchen im Schneematsch, dann Breakdance. Und das Beste: die schlotternden Gäste auf der Tribüne dürfen sich als Teil eines ebenso grotesken wie wagemutigen Gesamtkunstwerks empfinden - Open Air geht auch im Januar, wenn das kulturelle Feuer nur intensiv genug sprüht. In einer Klang- und Tanzperformance unterstützt sinnigerweise die Flex den Funkenflug.

War das Frösteln auf der Tribüne beim Festakt nur geladenen Gästen vorbehalten, so wurde im Anschluss daran das "Glück Auf 2010" betitelte Eröffnungsfest auf dem Zechengelände geradezu überrannt. Laut Veranstalter sahen hunderttausend Besucher ein pyrotechnisch anspruchsvolles, wenn auch nicht sonderlich einfallsreiches Feuerwerk und schlängelten sich durch einen liebevoll gestalteten Kulturparcours mit Installationen, die Lust auf ein pralles Kulturhauptstadtjahr entfachten.

Für Pommes rotweiß Schlange stehen


Da schallt zum Beispiel das Lied vom Wagen, der rollt, aus Halle 9. Am Eingang wartet ein Wandergitarrenspieler, und er findet die Akkorde für jeden, der singen mag. Zwei Tänzer bewegen sich im Takt, und all dies soll ein kleiner Vorgeschmack auf den Singtag am 5. Juni sein, wenn nach der Vorstellung des Kulturhauptstadt-Chefs Fritz Pleitgen und seines Teams das ganze Ruhrgebiet gleichzeitig und gemeinsam singen wird. Gegenüber im Oktogon präsentieren sich Wissenschaftsprojekte der Kulturhauptstadt. "Kultur ist ein allgemeiner Begriff, der sich durch sehr viele Bestandteile konstituiert", doziert einer der Diskutanten in der Eröffnungsnacht vom Samstag auf den Sonntag, während nebenan die "Grill- und Imbissbetriebe Schweine Heiner" kulinarische Ruhrgebietskultur kredenzen: Wer Pommes rotweiß will, muss lange Schlange stehen.

Auch wer sich mit der Rolltreppe ins neu eröffnete Ruhrmuseum bugsieren lassen will, muss zu den Stoßzeiten warten. Wie hart die Maloche einst war, sieht man dann beispielsweise am abgestoßenen Helm mit Hitzeschild aus dem Jahr 1959. Die Hauptattraktion des liebevoll bestückten Museums zur Ruhrgebietsgeschichte ist jedoch das Industriedenkmal Zeche Zollverein selbst - die Rostlöcher in den Maschinen zeugen von einem verlorenen Kampf gegen die Zeit. Das Zechengelände selbst gibt auch den Hauptdarsteller des Kunstparcours im Freien: Station zwanzig zeigt "Lebende Brachen" - wo sich ein paar dünne Bäume neuen Lebensraum erobert haben, dringen die Computerbeats einer verunsicherten Kreativwirtschaft aus dem witterungsbeständigen Lautsprecher.

Andernorts relativiert ein Meer aus riesigen weißen Luftballons die Bremskraft des Schnees, und ein Fackelweg führt zum Feuerspucker, der gerade einen Eleven - erstmal nur mit Wasser - in seine Kunst einweiht. "Der Sinn", sagt er, mache den Unterschied aus, ob jemand mit dem Feuer spiele oder mit Feuer arbeite.

Der Sinn lauert in dieser Nacht hinter Fördergerüsten und in Lagerhallen, er versteckt sich an Bahntrassen und am Ende von Gittertreppen. Eine führt in einen improvisierten Konzertsaal, in dem der Atem der Sopranistin gefriert, während in einer Inszenierung von zauberhafter Stille zwei stumme Fabelwesen ihre Arien in Bewegung transformieren. Und irgendwo schwebt auch ein gelber Fesselballon - einer von Hunderten, die Ende Mai als viertausend Quadratkilometer große Kunstinstallation Schachteingänge im ganzen Ruhrgebiet markieren sollen.

"Schachteingänge" ist eines von 300 Projekten der 53 Kommunen umfassenden Europäischen Kulturhauptstadt Ruhr 2010. Aber Fritz Pleitgen, ihr Geschäftsführer, zeigte sich nach der Eröffnung so euphorisch, dass er laut über zusätzliche Projekte mit neuen Sponsoren nachdachte. Pleitgen hatte zu Beginn des Festaktes gefordert: "Klatschen mit Handschuhen macht sich nicht so gut!" Wenn man sie endlich ablegen kann, steht einem furiosen Kulturfrühling im Ruhrgebiet nur noch die desolate Kassenlage der Kommunen entgegen.

Mehr Informationen zur Ruhr.2010 findet man hier »