Der Zentralrat der Juden hatte zur Kundgebung gegen Antisemitismus aufgerufen. Der Bundespräsident kam, die Kanzlerin, mehrere tausend Menschen. Doch ist es das Zeichen, das sich jüdische Menschen in Deutschland erhoffen?

Berlin - Es ist kein Hilferuf, sondern eine drängende Aufforderung an jeden in Deutschland: „Steh Auf!“ Unter diesem Motto - in dicken roten Lettern - hat der Zentralrat der Juden angesichts zahlreicher antisemitischer Verbalattacken und Gewaltdelikten am Sonntag zu einer Kundgebung in Berlin aufgerufen. „Nie wieder Judenhass!“, heißt es dann noch in kleineren Buchstaben weiter.

 

Es sind andere, schärfere Töne, zu denen sich der Zentralrat inzwischen gezwungen sieht. Weil er ein klares Zeichen der Gesellschaft vermisst. Ein Zeichen wie damals, beim „Aufstand der Anständigen“, zu dem vor 14 Jahren Kanzler Gerhard Schröder (SPD) nach einem Brandanschlag auf eine Synagoge aufgerufen hatte.

Damals kamen mehr als 200.000 Menschen zum Brandenburger Tor, um gegen Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus zu demonstrieren. Diesmal sind es nur mehrere tausend, um den nach übelsten Hasstiraden verunsicherten jüdischen Mitbürgern zu zeigen, dass Antisemitismus in Deutschland kein Platz hat.

Zentralratspräsident Dieter Graumann lässt in seiner Ansprache keinen Zweifel daran, wie ernst die Lage aus seiner Sicht ist. „Unsere Albträume, ja meine eigenen Albträume sind weit übertroffen worden“, ruft er. Die Juden wollten sich das nicht mehr gefallen lassen: „Genug ist genug!“ Nie im Leben habe er sich vorstellen können, in Deutschland überhaupt gegen Antisemitismus demonstrieren zu müssen.

Ein ganz anderes Bild als im Sommer

Die Politik ist prominent vertreten, und zahlreich. Bundespräsident Joachim Gauck ist gekommen, Kanzlerin Angela Merkel und mehrere Minister, Vertreter von Parteien, Verbänden und großen Kirchen. Doch während der Reden macht sich Unmut unter den Zuhörern breit. Der Ton ist schlecht, die Ansprachen kaum zu verstehen. Pfiffe gellen, „Lauter, lauter“-Rufe erschallen.

Und doch: Es ist ein ganz anderes Bild als noch im Sommer, als sich während des Gaza-Krieges nur ein paar hundert Demonstranten den Anti-Israel-Protesten in Deutschland entgegenstellten, auf denen vor allem Muslime offen antisemitische Parolen grölten. Nach ersten Schätzungen der Polizei haben sich am Sonntag etwa 4000 Demonstranten vor dem Brandenburger Tor versammelt. Der Zentralrat der Juden muss es geahnt haben. Er hatte 5000 Teilnehmer bei der Polizei angemeldet.

Und doch ist es keine Kundgebung, die den üblichen Empörungsreflexen folgt. Offene Juden-Feindlichkeit ist längst Wirklichkeit, der Riss in der Gesellschaft groß. Da werfen junge Männer Molotowcocktails in eine Synagoge. Da wird auf Straßen „Judenschweine“ gegrölt. Da wurden bei Demonstrationen im Sommer Nazi-Parolen wie „Juden soll man verbrennen“ laut. Auch das Internet ist voll von Hass und Häme.

Eine Gelegenheit, Antisemitismus auszuleben

Viele der Sprüche kommen aus dem Kreis von türkisch- oder arabisch-stämmigen Einwanderern. Zugleich machen aber auch Rechtsradikale und Linke mobil - eine eigenartige Mischung von Menschen, die sonst kaum etwas verbindet. Für viele scheint der Nahost-Konflikt die Gelegenheit, Antisemitismus auszuleben. Auch in europäischen Nachbarländern nehmen Gewalttaten gegen Juden zu.

In der deutschen Bevölkerung finden antisemitische und rassistische Agitation immer noch Anklang: Mindestens jeder zehnte Bürger stimmt der These von einer natürlichen Hierarchie zwischen Völkern zu und unterstellt Juden, sie würden von der Holocaust-Vergangenheit profitieren wollen, wie eine Studie des Instituts für Interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Uni Bielefeld ergab.

Bundespräsident Gauck hatte im Juli mehr Zivilcourage verlangt. Es dürfe keinen importierten und keinen alten Antisemitismus geben. Der Soziologe Armin Michael Nassehi klagt, es gebe keinen Konsens darüber, dass der aufflammende Antisemitismus hausgemacht sei. Es sei bequem zu sagen, es handele sich um eine eingewanderte Form - von muslimischen Migranten oder einhergehend mit den weltpolitischen Konflikten.

Deutliche Worte von Charlotte Knobloch

Auch Graumann fragte sich, warum es denn nicht anderen Menschen im Land eingefallen sei, über die judenfeindlichen Töne zu reden. Deutliche Worte - auch mit Blick auf die Kundgebung im Jahr 2000 - kommen von Ex-Zentralratspräsidentin Charlotte Knobloch: „Die Anständigen scheinen eingeschlafen zu sein“, meint sie und fragt: „Warum kommt die Initiative nicht aus der Mitte der Gesellschaft?“.

Übrigens: Bei der „Revolutionären 1.-Mai-Demonstration“ von Linksradikalen marschierten zuletzt 19 000 Demonstranten durch Berlin.