Grasgeisterwesen aus Westafrika, Menschen, die sich in Teddys verwandeln, Mimikry im Supermarkt: Eine Ausstellung im oberschwäbischen Burgrieden zeigt, was Künstler zum Thema Karneval zu sagen haben.

Reportage: Robin Szuttor (szu)

Burgrieden - König Gustav III. von Schweden war einer der machthungrigsten Monarchen seiner Zeit. Am 16. März 1792 wurde er auf einem Kostümfest in der Stockholmer Oper von einem Maskierten ermordet. Der südafrikanische Künstler Yinka Shonibare macht aus dem Attentat ein Tanztheater. 20 Minuten ohne Worte, ohne Musik, ohne Geräusche. Nur ab und zu lautes Atmen und das Geschiebe und Getippel von Schritten auf dem Parkett. Die Ballgäste tragen prunkvolle Gewänder, ihre Gesichter sind maskenstarr. Dann der Schuss. Der Getroffene sinkt nieder – steht aber wieder auf, und alles beginnt von vorn. Nach ein paar Wiederholungsschleifen verlässt der König schließlich den Saal und die ganze Szenerie. Es hört nie auf, so sieht es Shonibare. Die Mächtigen können machen, was sie wollen. Und dann einfach das Spielfeld verlassen.

 

Zu sehen ist der Kurzfilm in der Dachstube der Villa Rot. Das Museum liegt in Oberschwaben, in der Gemeinde Burgrieden, Teilort Rot, kurz vor dem Ortsende dem Schild nach, quer durch die Siedlung bis oben an den Ackerrand. Hier erbaute Raymond Fugger, Edler des Königreichs Ungarn und Spross der berühmten Kaufmannsfamilie, vor hundert Jahren sein Schlösschen. Nach dem Zweiten Weltkrieg gab der Dirigent Hermann Hoenes mit Gattin Feodora, einer kapriziösen Majorstochter und Elektrizitätswerksbesitzerin, hier Gesellschaften und pflegte seine Sammlung asiatischer Kunst. Heute nähert sich hier die Museumschefin Stefanie Dathe den „Grenzbereichen der Kunst“, wie sie sagt. Sie machte schon Ausstellungen über Haare, über Insekten, über Tätowierungen, zeigte Rauminstallationen aus Zucker und die Afrikasammlung von Georg Baselitz. Jetzt: die Kunst des Karnevals.

An Fasnet ist alles anders. Dann öffnet sich das Druckventil, und der Dampf kann raus. Die Welt steht kopf, alles ist außer Rand und Band. Zwar passiert das heute ständig: beim Ski-Opening in Ischgl, im Bierkönig auf Mallorca, auf der Wiesn und dem Wasen – immer gibt es dazu die passende Verkleidung. Aber keine Zügellosigkeit ist so verwurzelt wie die karnevalistische. In den Alpenländern gehen in den berüchtigten Raunächten finstere Schreckgestalten, Schattenwesen, Pelzkobolde um. Sie heißen Krampusse, Glöckler, Schiachperchten, Buttnmandln, Tschäggättä, machen Stampf- oder Sprungtänze, Heische-, und Einkehrbräuche, Umlauf- und Stubenspiele. In Oberschwaben ziehen die Reuter Eisweiber oder die Olzreuter Gomba Gurra los, die Reichenbacher machen mit ihrem Narrenruf „Jo mei, jo mei, dr Nebl druckt rei“ die Gegend unsicher, in Steinenbach feuern sich die entfesselten Horden mit „Bobbele Bobbele Stoinabach“ an.

Durchorganisierte Fasnet

Aber von wegen Anarchie. Alles ist bis ins Kleinste durchorganisiert und wie von geheimbündlerischen Regeln durchwoben. Der Künstler Thomas Hörl aus Hallein schafft sich darin kindlichen Spielraum und zeigt ihn stolz in der Villa Rot. Er geht im Flur seiner Wohnung Schritt für Schritt die vorgeschriebene Choreografie eines solchen traditionsreichen Dämonenwesens ab, nur mit Unterhosen bekleidet und mit funkelnden Wunderkerzen auf dem Kopf. Aufgenommen in gespenstischer Nightspot-Optik mit einem VHS-Camcorder: die Essenz des Volkstums, Brauchtum in der Diele. Ganz nah dran ist man auch in Hörls begehbarer Skulptur aus Zirbelkiefer. Aus diesem Holz sind die Narrenfratzen geschnitzt. So riecht Fasnet.

Axel Hoedt hat die alemannische Fastnacht als Kind immer einen Schauder verursacht. Den gibt er jetzt zurück. Der Fotograf ist aus London wieder in seine Heimat, den Schwarzwald, gezogen und hat die obskuren Gestalten in den tollen Tagen abgelichtet: Narrenporträts mit Häs in der Ästhetik der Großstadt-Fashion-Glamour-Fotografie. Eine ziemlich beunruhigende Kombination. Oder seine überblendeten Polaroid-Schnappschüsse, die den Motiven etwas Traumhaftes mitgeben: Der Künstler spielt dabei mit der Eigendynamik jedes einzelnen Fotos, das sich ja außerhalb der Kamera entwickelt. Und wenn das bei 20 Grad minus passiert, entstehen Störeffekte. Alles bekommt binnen weniger Sekunden einen anderen Anstrich. Ein einfaches Dorfbildnis wird zum LSD-Poster, plötzlich ganz brüchig, fehlerhaft und verschwommen. Was für eine Entwicklung.

Die Karnevalsausstellung ist eine Kooperation mit der Memminger Kunsthalle Mewo. Die Mewo taucht mit Themen wie Männerballett in die Abgründe des Seins, mit Krautmännern oder anderen sagenhaften Kerlen ins Märchenhafte alpenländischer Fasnetstradition ein. In der Burgriedener Villa Rot geht es auch um verwandte Formen des Karnevals auf der ganzen Welt.

Der Grasgeist aus Nigeria

Die amerikanische Fotografin Phyllis Galembo hat viele Jahre lang Afrika bereist, wohnte Fruchtbarkeitstänzen und Jagdritualen bei, hörte Schamanen Zauber sprechen und Häuptlinge Urteile fällen. Und überall waren Masken im Spiel. Mit Grasbüscheln bedeckt, wird ein normaler Mensch dort zum Geistwesen, das die Seele eines Verstorbenen in der heimischen Hütte zur Reise ins Totenreich abholt. Galembo hat ein solches Wesen mit ihrer Hasselblad festgehalten. Ein Foto, das ohne Pose oder besondere Technik auskommt. Vielleicht das ungewöhnlichste Bild in der Ausstellung, weil man hier Übernatürliches sieht. Erstaunlich, dass Galembo das Einverständnis für das Foto bekam.

Zum guten Schluss wird das Graskostüm verbrannt und mit ihm auch der Tote aus der irdischen Welt entlassen. Bei der nächsten Leiche wird ein neues Kostüm gebastelt, das ist kein Hexenwerk und kann ruhig anders aussehen als das alte. In der nigerianischen Trockensavanne ist alles leicht und flüchtig, verglichen mit schwäbischen Masken, die für die Ewigkeit geschnitzt sind und Tausende Euro kosten.

„In der Maske liegt das Geheimnis der menschlichen Gesellschaft“, sagt Tilman Alert, Soziologieprofessor in Frankfurt am Main in seinem Aufsatz für den Ausstellungskatalog: „Die Dynamik zwischen Maske und Authentizität, dieses ewige Rätsel, adelt den Menschen und unterscheidet ihn vom Tier. Sie bringt Vitalität und Unruhe mit sich. Man kann daran ein Vergnügen finden, aber auch verrückt werden.“

Masken schützen

Sind wir echter mit oder ohne Pappnase? Masken tragen nicht nur Typen, die anders sein wollen. Man kann sie auch überstreifen, um sich der Norm anzupassen. Um etwas darzustellen in der Gesellschaft. Um das Einzigartige vor dem Gewöhnlichen zu schützen. Dann läge in jeder Begegnung ein Mix von Versteckspiel und Preisgabe. Auch in der Liebe, die noch in der Maske die Schönheit des Originals sieht. Lassen wir uns ein aufs große Abenteuer?

Wer immer authentisch rüberkommt, lässt sich vielleicht nur nicht gern entdecken und spielt seine Rolle deshalb besonders gut. Und wer denkt, das ganze Geheimnis hinter der Maske greifen zu können, der irrt – oder, um es mit dem Dichter Robert Musil zu sagen: „Wir glauben, in die Tiefe der Abgründe hinabgetaucht zu sein, und wenn wir wieder an die Oberfläche kommen, gleicht der Wassertropfen an   unseren bleichen Fingerspitzen nicht mehr dem Meere, dem er entstammt. Wir wähnen, wunderbare Schätze entdeckt zu haben, und wenn wir wieder ans Tageslicht kommen, haben wir nur falsche Steine und Glasscherben mitgebracht. Trotzdem schimmert der Schatz im Finstern unverändert.“

Wie schafft man es also, sich für den harten Alltagskampf richtig auszubalancieren zwischen Unverfälschtheit und Pose? Man müsste so was finden wie der Schauspieler, Karatesuperstar und Zenphilosoph Bruce Lee in seinem Kung-Fu-Stil: die Kunst der „unnatürlichen Natürlichkeit oder natürlichen Unnatürlichkeit“, wie er sagt. „Hier ist der natürliche Instinkt, da ist die Kontrolle, man soll sie in Harmonie kombinieren. Wenn die Kontrolle ins Extreme geht, wirst du mechanisch, nicht mehr menschlich. Geht der Instinkt ins Extreme, wirst du unpräzise. Es ist leicht für mich, eine Show zu machen und mich ziemlich cool zu fühlen. Aber sich ehrlich auszudrücken ist schwierig. Wenn Bruce Lee schlägt, ist er der Schlag, sein Wesen ist Schlag.“

Auch Klaus Pichlers Helden in der Villa Rot haben ihre Strategie, um im täglichen Lebenskampf zu bestehen, auch sie kommen meist martialisch daher. Aber sie sind ganz lieb. „Just the two of us“ nennt der Wiener Fotograf seinen Zyklus, für den er Kostüm-Fetischisten in ihrem häuslichen Umfeld porträtiert hat. Zu sehen sind Menschen, die sich in der Freizeit in Schale werfen: der schwarze Darth Vader bügelt seine Weißwäsche, der fiese Ork lässt auf seinem stilvollen Ledersessel die Seele baumeln.

Mit Pestmaske vor dem Heimcomputer

Dabei scheinen, wenn man ihre Wohnungseinrichtungen betrachtet, hinter den Figuren mehr Normalbürger als Freaks zu stecken. Einer ist gerne eine Echse. Vielleicht liebt er das Stille und das Starre und das Gefühllose, das ihn abends nach einem vollen Tag Leben, wenn sich die innere Hitze dem Siedepunkt nähert, abkühlt wie ein feuchter Lappen auf der Stirn. Der süße Knopf, der gern ins Ganzkörper-Teddykostüm schlüpft, sucht wohl eher die Wärme, und bestimmt schwitzt er sehr. Warum der IT-Fachmann wohl mit einer mittelalterlichen Pestmaske vor den Heimcomputer sitzt? Das geht uns eigentlich überhaupt nichts an. Wir sollten da auch gar nicht näher hinschauen. Das ist Intimsphäre.

Guerilla-Kunst im öffentlichen Raum zeigen Sabina Keric und Yvonne Rundio. „Urban Camouflage“ heißen ihre illegalen Mimikry-Performances, bei denen sie in Möbelhäuser, Super- und Baumärkte gehen und sich dort komplett in nützliche Produkte der Konsumgüterindustrie hüllen. Als Suppengemüse oder Styroporplatten verkleidet, mischen sie sich dann in das Sortiment, die Wühlkisten, Gefriertruhen und Regale, um ganz eins zu werden mit der Warenwelt. Die idealen Verbraucher.