Marseille ist krank, die Stadt leidet an schweren Auflösungserscheinungen.“ Patrick Lacoste hatte das am Vortag gesagt. Der in Diensten der Regionalverwaltung stehende Stadtplaner beklagt einen Zerfall der Metropole in einen armen, vornehmlich von Nachfahren schwarzafrikanischer und arabischer Einwanderer bewohnten Norden und einen reichen Süden. Lacoste legte Grafiken vor. Ob Monatseinkommen oder Bildungsniveau, die Schaubilder offenbarten mehr als nur ein Nord-Süd-Gefälle. Sie legten soziale Abgründe frei. Der Diagnose folgte die Prognose: „Wenn das so weitergeht“, sagte Lacoste, „haben wir hier in zehn Jahren Bürgerkrieg.“

Wohnkomplexe sind hermetisch abgeriegelt

Nicht nur der arme Norden, wo 250 000 der 850 000 Einwohner Marseilles leben, geht auf Abstand. Der Süden tut es ebenfalls. Sicherheitsfirmen riegeln dort ganze Wohnviertel ab. Eines liegt gleich hinter dem Prado-Hafen. Ehemals öffentliche Verkehrswege sind dort als „Privatstraßen“ ausgewiesen. Stahlschiebetore regeln den Zugang. Wenn sie von Anrainern oder Wachpersonal den elektronischen Befehl erhalten, gleiten die Tore auf in den Asphalt eingelassenen Schienen lautlos zur Seite. An Laternenmasten montierte Videokameras registrieren, wer Einlass gefunden hat. Hinter den Toren ragen Natursteinmauern empor. Glasscherben sind ins Mauerwerk eingelassen. Das Viertel muss schön sein. Der Blick fällt auf Palmen- und Pinienwipfel. Das gleichmäßige Plopp geschlagener Tennisbälle dringt ans Ohr.

Mehr als 1500 hermetisch abgeriegelte Wohnkomplexe gibt es bereits, deren Bewohner sich von den Befestigungsanlagen vor allem eines versprechen: Schutz vor ihren Mitbürgern aus den Elendsquartieren, die unter dem Generalverdacht der Gewaltbereitschaft stehen.

„Marseille ist krank, die Stadt leidet an schweren Auflösungserscheinungen.“ Patrick Lacoste hatte das am Vortag gesagt. Der in Diensten der Regionalverwaltung stehende Stadtplaner beklagt einen Zerfall der Metropole in einen armen, vornehmlich von Nachfahren schwarzafrikanischer und arabischer Einwanderer bewohnten Norden und einen reichen Süden. Lacoste legte Grafiken vor. Ob Monatseinkommen oder Bildungsniveau, die Schaubilder offenbarten mehr als nur ein Nord-Süd-Gefälle. Sie legten soziale Abgründe frei. Der Diagnose folgte die Prognose: „Wenn das so weitergeht“, sagte Lacoste, „haben wir hier in zehn Jahren Bürgerkrieg.“

Wohnkomplexe sind hermetisch abgeriegelt

Nicht nur der arme Norden, wo 250 000 der 850 000 Einwohner Marseilles leben, geht auf Abstand. Der Süden tut es ebenfalls. Sicherheitsfirmen riegeln dort ganze Wohnviertel ab. Eines liegt gleich hinter dem Prado-Hafen. Ehemals öffentliche Verkehrswege sind dort als „Privatstraßen“ ausgewiesen. Stahlschiebetore regeln den Zugang. Wenn sie von Anrainern oder Wachpersonal den elektronischen Befehl erhalten, gleiten die Tore auf in den Asphalt eingelassenen Schienen lautlos zur Seite. An Laternenmasten montierte Videokameras registrieren, wer Einlass gefunden hat. Hinter den Toren ragen Natursteinmauern empor. Glasscherben sind ins Mauerwerk eingelassen. Das Viertel muss schön sein. Der Blick fällt auf Palmen- und Pinienwipfel. Das gleichmäßige Plopp geschlagener Tennisbälle dringt ans Ohr.

Mehr als 1500 hermetisch abgeriegelte Wohnkomplexe gibt es bereits, deren Bewohner sich von den Befestigungsanlagen vor allem eines versprechen: Schutz vor ihren Mitbürgern aus den Elendsquartieren, die unter dem Generalverdacht der Gewaltbereitschaft stehen.

Vom Parkplatz aus ist die Zufahrtsstraße nach Kallisté leicht einzusehen. Vier Jugendliche patrouillieren dort. Späher sind es, wie die für Sicherheit und das Einfädeln von Geschäften zuständigen Nachwuchskräfte genannt werden. Sie tragen Jogginganzüge. Die Gesichtszüge sind im Schatten von Baseballkappen und Kapuzen nicht zu erkennen.

Wer Glück hat, wird Bandenchef, wer Pech hat, wird umgebracht

Wenn ein Späher Glück hat, kann er sich hocharbeiten: zum Caid, der über eine Siedlung gebietet, womöglich gar zum Bandenchef, der ein ganze Stadtviertel kontrolliert. Wenn er Pech hat, wird er umgebracht. 16 junge Männer aus dem Drogenmilieu sind in diesem Jahr bereits erschossen worden. Die meisten ließen in Maschinengewehrsalven ihr Leben.

Manchmal verrichten die Killer ihr Werk allerdings auch in aller Stille. Am zweiten Oktobersonntag fanden Bewohner Kallistés einen 27-Jährigen erstochen auf dem Asphalt. Die Polizei mischt sich nicht gern ein. Das vor allem von Immigranten aus den Komoren bewohnte Viertel zählt zu den No-go-Areas der Stadt.

Guillaume Bottazzi schlägt Brücken. Foto: StZ

Guillaume Bottazzi geht trotzdem nach Kallisté. In Tokio hat der Maler den Fassaden des Miyanomori-Museums für Internationale Kunst mit lichten, warmen Farben und runden Formen die Strenge genommen, die quaderförmiger Architektur zu eigen ist. In La Ciotat, einer südlich von Marseille gelegenen Kleinstadt, steuert er zu den Kulturhauptstadtfeiern ebenfalls ein Fassadengemälde bei. Aber das genügt Bottazzi nicht. Er will mehr als nur malen. Das Publikum einbeziehen, das ist ihm wichtig. Es soll in Farbtöpfe greifen, den Pinsel schwingen, sich das Kunstwerk aneignen. Und so ist er nach Kallisté zurückgekehrt, um zu sehen, was die Bewohner aus dem gemacht haben, was er vor sieben Jahren hinterlassen hat: die bemalte Fassade des Kindergartens. Ob die Späher wissen, dass der gebräunte 42-Jährige Mann in Bluejeans und grauem T-Shirt kein Spitzel ist, kein Bulle in Zivil?

Im Hafen wurden die Barrieren eingerissen

Bottazzi hätte sich für diesen Sonntag Schöneres vornehmen können. Einen Streifzug durch das Zentrum der Hafenstadt etwa. Dort werden keine Barrieren hochgezogen. Dort wurden sie eingerissen, der Ernennung Marseilles zur europäischen Kulturhauptstadt sei Dank. Lagerhallen wurden dem Erdboden gleichgemacht, der Autoverkehr unterirdisch durchs Zentrum geleitet. Wo Beengtheit, gar Beklommenheit herrschte, hat sich Marseille dem Mittelmeer geöffnet. An den Gestaden der Stadt ist Raum entstanden für Neues, für das MuCEM zumal, das Museum für die Zivilisationen Europas und des Mittelmeeres.

Die Sonne scheint hier an 300 Tagen im Jahr

Ein an Korallen gemahnendes Betonnetz im arabischen Mudéjarstil überzieht Dach, Nord- und Ostwand des Gebäudes, verleiht ihm Leichtigkeit. Honigfarben leuchtet dahinter das Fort Saint-Jean, blau das Meer. Die im Innern des Museums präsentierten Ausstellungsstücke mögen wenig spektakulär sein, das Äußere ist es allemal. Élisabeth Cestor sitzt auf der Dachterrasse des MuCEM, dessen künstlerisches Programm sie mitgestaltet. „Wir sind hier alle stolz“, sagt sie. „Marseille ist nicht mehr nur eine ethnisch kunterbunte, in Existenzkämpfe verstrickte Stadt, Marseille ist nun auch noch schön.“

Der Platz am Alten Hafen ist dank des urbanen Großputzes weiter, einladender geworden. Was im Norden und Süden der Stadt scheitert, hier im Zentrum gelingt es: die Begegnung zwischen Menschen unterschiedlicher sozialer und ethnischer Herkunft.

Fremdenführer scharen Ausflügler um sich. Demonstranten gegen Tierversuche recken Transparente in die Höhe. Pensionäre finden sich zum Mittagsplausch ein. Musiker des Stadtorchesters posieren im Frack fürs Prospektfoto. Der aus Algerien stammende Besitzer des Restaurants Le Souf rühmt die Stadterneuerung. Sie lockt Touristen an, die den Weg ins arabische Viertel fänden und ins Le Souf, sagt er. Am Metroeingang zögern Liebende den Abschied hinaus. Ein Geschäftsmann greift zum Telefon, reserviert einen Tisch im Fonfon. Die beste Bouillabaisse der Stadt kommt dort auf den Tisch: brauner Fischsud in weißer Suppenterrine, dazu auf silberner Platte Petersfisch, Petermännchen, Meeraal, Drachenkopf, Galinette. Und über all dem scheint die Sonne. Nach Auskunft der Meteorologen tut sie das hier an 300 Tagen im Jahr.

Vorm Kindergarten hielt man Bottazzi eine Pistole vor die Nase

Aber Bottazzi hat sich für Kallisté entschieden. Der in Lyon geborene Sohn italienischer Eltern sucht sich einen Weg zwischen Autowracks und teichgroßen Pfützen, durchquert eine mit Plastiktüten übersäte Wiese. Der eben noch angespannte Gesichtsausdruck Bottazzis weicht einem Lächeln. Er steht vor dem Kindergarten. Die Mauern ringsum sind von Ruß und Fäulnis gezeichnet und mit Graffiti überzogen. Die Wand des Kindergartens ist so, wie der Maler sie hinterlassen hat. Sie leuchtet rot und gelb. Auch die Blasen und Ballons, die aussehen, als wollten sie sich im nächsten Augenblick von der Mauer lösen, sind noch da. „Die Menschen hier respektieren mein Werk, sie respektieren mich“, frohlockt der Künstler.

Vor dem Kindergarten mit Pistole bedroht

Am Parkplatz löst sich ein Späher aus der Gruppe. „Er ist bewaffnet“, sagt Bottazzi. Als ihm 2006 vor dem Kindergarten jemand die Pistole vor die Nase hielt, hatte er sich mit der spöttischen Bemerkung Respekt verschafft: „Erschieß erst einmal deine Kumpels, dann sehen wir weiter.“ Diesmal scheint der Späher Bottazzi erkannt zu haben. Er deutet ein Nicken an, kehrt zu den Gefährten zurück.

Karima Beriche übt sich in positivem Denken. „Die Abschottung hat auch Vorteile, im Ghetto rückt man solidarisch zusammen“, sagt sie. Die aus Marokko stammende Soziologin mit dem zum Knoten gebundenen Kraushaar leitet im Mietskasernenviertel Busserine ein Sozialzentrum. Eine Anlaufstelle für Schulkinder ist das, die nach dem Unterricht Hausaufgabenhilfe erhalten. Beriche erzählt von Jungen, die an Treppenaufgängen der Wohnsilos hocken und alten Damen unentgeltlich Einkaufstaschen ins 15. Stockwerk schleppen. Sie rühmt die Bereitschaft äußerst beengt lebender Bewohner, Freunde und Verwandte aufzunehmen.

Die Jugend gehorcht den Rauschgifthändlern

Die Nachteile überwiegen freilich. Die in den sechziger Jahren für die als Arbeitskräfte benötigten Einwanderer hochgezogenen Siedlungen sind Schlafstädte. Der letzte Bus fährt gegen 21 Uhr. „Die Stadt hat kein Interesse, dass wir hier rauskommen“, sagt eine Frau, deren dunkler Teint und bunt bedruckter Rock auf komorische Herkunft hindeuten. „Wissen Sie, was es bedeutet, wenn ich zusehen muss, wie Dealer meinen zehnjährigen Sohn anwerben, ihn einweisen ins lukrative Drogengeschäft?“, fragt eine Marokkanerin. Die Rauschgifthändler kontrollierten alles, sagt sie, die Jugend sei ihnen hörig.

Und wie soll eine Mutter ihren Kindern auch überzeugende Alternativen aufzeigen? Arbeitslosigkeit und Sozialhilfe oder Jobs, die nur einen Bruchteil des Lohns abwerfen, den es im Drogenhandel zu verdienen gibt, – mehr Möglichkeiten rechtschaffenen Broterwerbs gibt es nicht. Der Cannabis-Markt ist in Frankreichs zweitgrößter Stadt der bedeutendste Arbeitgeber. Das Einstiegsgehalt liegt bei 100 Euro pro Tag. Die Arbeitslosenquote in Siedlungen wie Busserine oder Kallisté nähert sich der 40-Prozent-Marke.

Yves Moraine ist ein mächtiger Mann. Er ist Rechtsanwalt, Bürgermeister der wohlhabendsten Arrondissements der Stadt, des sechsten und des achten, sowie Fraktionsvorsitzender der Marseille regierenden konservativen UMP. In seiner Kanzlei in der Rue Grignan stapeln sich die Akten zu Bergen. Moraine lehnt sich in einem Ledersessel zurück, lächelt, zuckt mit den Achseln. „Nichts zu machen“, sagt er, „solange der Staat das Rauschgiftproblem nicht grundsätzlich löst, wird sich hier nichts ändern.“ Was aus Sicht des Juristen und Politikers kein Grund zur Beunruhigung ist. „Wir Bürger Marseilles können gut damit leben, dass sich da draußen ein paar Dealer umbringen“, versichert er.