Der britische Künstler Robert Koenig hat mitten in Leutkirch im Allgäu 42 Holzfiguren aufgestellt, um an Vertreibung, Verfolgung und Heimatlosigkeit zu erinnern – und das ganz spezielle Schicksal lokaler NS-Opfer.

Leutkirch - In Reih und Glied stehen sie auf dem Gänsbühl wie eine Armee von übergroßen Soldaten. 2,50 Meter hoch, den leeren Blick starr geradeaus nach vorn gerichtet, die Hände an den Körper gepresst, ruhen die Holzfiguren reichlich ungeschlacht auf ihren Betonsockeln. Einheitlich wie eine Uniform ist auch ihre Kleidung gehalten. Die Männer tragen gelbe Hemden und grüne Hosen, die Frauen grüne Blusen zu roten Röcken. Aber die Figuren, die hier mitten in Leutkirch (Kreis Ravensburg) zwischen Rathaus und dem historischen Stadtmuseum im Bock aufgestellt sind, wirken nicht anklagend, sondern fragend und neutral.

 

Es sind stumme Zeitgenossen, die starr auf jene Stelle blicken, wo einst das Kaufhaus der vertriebenen und ermordeten jüdischen Familie Gollowitsch stand, die Ende des 19.  Jahrhunderts aus Polen eingewandert war. Ihr Kaufhaus war bald das schönste und größte weit und breit. Als es 1938 teilweise abgerissen wurde, hatten Leutkircher Geschäftsleute die Hälfte der Entschädigungssumme von 28 000 Reichsmark gespendet – zu Gunsten der „Verschönerung des Stadtbildes“.

Dort blicken nun drei Holzfiguren unverwandt zurück. Sie erinnern an die ermordeten Familienmitglieder Heiner, Alice und Lilo Gollowitsch. Weiter oben stehen, abseits der Gruppe, stehen zwei Figuren, die für Emilie und Johanna Haßler stehen. Die beiden geistig behinderten Töchter des Schuhmachers Fritz Haßler wurden in Grafeneck im Zuge der NS-Euthanasie ermordet.

Robert Koenig will kein Richter über die Geschichte sein

Das Werk des britischen Künstlers Robert Koenig aus Bristol kann man leicht als Anklage an die jüngere Geschichte Leutkirchs verstehen. Man muss es aber nicht so sehen. Koenig lässt das offen. Er will kein Richter über die Geschichte sein, sondern eher neutraler Beobachter. „Überall erzählen mir die Menschen ihre Geschichte. Das ist gut so. Denn bei mir geht es nicht um Schuld“, sagt er. Seine Skulpturen sind für ihn „Wächter der Erinnerung“ und sein Werk heißt nicht zufällig „Odyssey“.

Seit 16 Jahren zieht er damit quer durch Europa. Leutkirch ist seine 19. Station seit Ende der 90er Jahre. Der 62-jährige Koenig ist das Kind polnischer Emigranten und fühlte sich in England selbst seltsam entwurzelt. Er sagt, er habe sein Werk geschaffen, um Kontakt zur polnischen Heimat seiner Mutter aufzunehmen. Sie war als junge Frau aus ihrem Heimatort Dominikowice wie Vieh zur Zwangsarbeit in ein NS-Arbeitslager in Speyer gebracht worden und überlebte nur knapp.

Aus einer Linde, die er in ihrem Dorf fand, schuf Koenig seine erste Statue. Er hat sie wie alle späteren bewusst gesichtslos gehalten. Die Figuren sollten stellvertretend für all jene stehen, die das Schicksal der Verfolgung, Vertreibung und sogar Vernichtung erlitten hatten und das Gefühl der Entwurzelung und Heimatlosigkeit teilten.

Das Gedenken am Volkstrauertag hat sich schon verändert

In Leutkirch hat Koenig der Leidensweg der Familie Gollowitsch und der beiden Haßler-Töchter eingenommen. Die 16-jährige Lilo Gollowitsch, die 1942 nach Auschwitz deportiert und ermordet worden war, wurde Koenigs 42. Figur. Die Leutkircher Gruppe „Orte des Erinnerns“ hat für die Finanzierung der Ausstellung gesorgt und ein Begleitprogramm zum Schicksal der Familie Gollowotsch mit Workshops, Filmen und Gottesdiensten zusammen gestellt. Die Ausstellung läuft noch bis zum Sonntag – ebenfalls im Rathaus.

Der Leutkircher Initiativkreis hatte schon vor zwei Jahren mit einer viel beachteten Reihe an die NS-Opfer erinnert. Den Kreis hatte das verordnete Gedenken und die Gleichmacherei von Opfern und Tätern der Weltkriege am Volkstrauertag gestört. Das kollektive Erinnern hat sich in Leutkirch seitdem verändert, sagt der Sprecher der Gruppe, Hubert Moosmayer.

Robert Koenigs Gollowitsch-Figur wird im Allgäu bleiben. Sie wird künftig an jedem Volkstrauertag an eine der sechs Schulen am Ort übergeben, die dann für das kommende Jahr die Patenschaft übernimmt. Robert Koenig hofft, dass andere deutsche Städte Leutkirchs Beispiel folgen werden. „Die Geschichte der Heimatlosigkeit, Vertreibung und Verfolgung werde überall erzählt – gerade in Deutschland“, sagt er.

Leutkirch -