75 Tonnen wiegt das Mahnmal, das seit Donnerstag beim Winnender Zentrum für Psychiatrie steht. Der Betonguss in Form eines Postbusses erinnert an die Fahrzeuge, mit denen knapp 400 Patienten der Heilanstalt 1940 nach Grafeneck gebracht und getötet worden.

Winnenden - Ganze 6500 Kilometer hat der graue Koloss, der seit Donnerstagmittag im Hof des Klinikums Schloss Winnenden steht, schon zurückgelegt. Dabei hätte der aus Beton gegossene, neun Meter lange Postbus eigentlich nur knapp 120 Kilometer weit – von Ravensburg bis nach Grafeneck – reisen sollen, sagt Thomas Müller. Er leitet den Forschungsbereich „Geschichte und Ethik in der Medizin“ des Zentrums für Psychiatrie Südwürttemberg in Ravensburg-Weissenau. „Wir wollten die Menschen in den Gemeinden entlang dieser Strecke an die NS-Euthanasie und die Zwangssterilisationen erinnern“, erläutert Müller die Gründe für den 2005 von der Klinik und der Stadt Ravensburg ausgeschriebenen Kunstwettbewerb, dessen Resultat in Form des grauen Busses am Donnerstag in Winnenden eingetroffen ist (siehe „Ein Denkmal reist von Ort zu Ort“).

 

Winnenden ist die 15. Station

Doch das Interesse an dem – allerdings nur mit der Hilfe von drei Schwertransportern – beweglichen Denkmal sei so groß gewesen, dass der Bus bereits durch ganz Deutschland und bis ins polnische Posen gereist sei, erzählt Thomas Müller. Winnenden ist nun seine 15. Station, denn auch 396 Patienten der einstigen Heilanstalt Winnenthal mussten damals in die grau gestrichenen Busse mit abgedunkelten Scheiben steigen und sind nie mehr gesehen worden. „Wohin bringt ihr uns?“ – diese Frage steht in großen Lettern auf dem von Andreas Knitz und Horst Hoheisel geschaffenen Kunstwerk.

„Unser Ethik-Komitee hat angeregt, dass wir den Bus zu uns holen“, erzählte Michiko Pubanz, die Leiterin der Presseabteilung des Klinikums Schloss Winnenden. Zwar gebe es jedes Jahr am 27. Januar, dem Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus, eine Veranstaltung, „aber das war uns zu wenig“.

„Wir sollten aus der Vergangenheit lernen. Die grauen Busse können uns dazu anhalten“, sagte Anett Rose-Losert, die Kaufmännische Direktorin des Klinikums bei der Aufstellung des Denkmals. Euthanasie sei auch heute ein Thema angesichts der Debatten um Sterbehilfe und pränatale Diagnostik. Die Vernichtungsaktion „T 4“ habe das Nazi-Regime zwar nach Protesten im August 1941 beendet. Dennoch seien im Rahmen der sogenannten „wilden Euthanasie“ weiterhin Patienten ermordet worden, denn die Nazis hätten die Heil- und Pflegeanstalten und ihr medizinisches Personal gebraucht, um Soldaten zu versorgen.

Die Enkelgeneration fragt nach

Rund 275 000 Patienten seien zwischen 1941 und 1945 dezentral umgebracht worden – „auch in Winnenden gab es wilde Euthanasie“. Durch die Gabe von Medikamenten, durch schlecht beheizte Zimmer und eine Verpflegung, die beispielsweise aus in Wasser ausgekochten Kartoffelschalen bestanden habe. „Unsere Eltern haben darüber geschwiegen“, sagte der Künstler Horst Hoheisel, dessen Tante in der Vernichtungsanstalt Hadamar ermordet wurde: „Aber die Enkelgeneration fragt nach und das ist eine gute Entwicklung.“

Nachgefragt und nachgeforscht haben auch die Schüler der Klassen 7 bis 10 der Geschwister-Scholl-Realschule in Winnenden: Sie präsentierten eine 160 Meter lange Leine, an der 396 weiße, beschriftete Fahnen befestigt waren. Diese haben die Schüler als Todesanzeigen gestaltet und jeweils mit dem Namen, dem Geburts- und dem Sterbedatum eines aus Winnenthal deportierten und ermordeten Patienten versehen. Eine zeitaufwendige und traurige Erinnerungsarbeit, erzählen die 16-jährige Joana und die gleichalterige Cheyda: „Wir haben von der Klinik eine Liste mit unzähligen Namen bekommen. Es gibt einem einen Stich ins Herz, wenn man sie liest. Es waren auch viele Kinder dabei.“

Ein Denkmal reist von Ort zu Ort

Künstler
Horst Hoheisel ist 1944 geboren und setzt sich seit vielen Jahren künstlerisch mit dem Thema Nationalsozialismus auseinander. Das „Denkmal der Grauen Busse“ hat er gemeinsam mit dem 1963 geborenen Ravensburger Künstler Andreas Knitz entworfen.

Denkmal
Das im Jahr 2006 erschaffene Denkmal besteht aus zwei neun Meter langen Bussen aus Beton, die jeweils 75 Tonnen wiegen. Die Betonbusse sehen genau aus wie jene Fahrzeuge, die in den Jahren 1940/41 im Rahmen der nationalsozialistischen „Aktion T 4“ Menschen aus Pflegeanstalten in Tötungsanstalten wie etwa Grafeneck auf der Schwäbischen Alb transportierten. In Grafeneck wurden innerhalb eines Jahres 10 654 Menschen mit Gas ermordet, darunter auch Menschen aus Winnenden.

Bewegung
Die Idee dieses Erinnerungsprojekts ist ein „Denkmal in Bewegung“. Während einer der Busse dauerhaft am Zentrum für Psychiatrie in Weissenau bei Ravensburg steht, reist der zweite Bus durch das Land. Zuletzt hat der Bus in Braunschweig Station gemacht. In Winnenden steht er voraussichtlich bis Ende März 2016.

Massenmord
Mit der „Aktion T 4“ begann Anfang des Jahres 1940 die systematische Ermordung von Menschen. In sechs Vernichtungszentren wurden bis August 1941 mehr als 70 000 Menschen vergast. Dazu gehörten Menschen mit geistigen Behinderungen und psychischen Erkrankungen, jüdische Patienten sowie Sinti und Roma. Sie alle wurden von den Nazis als „lebensunwertes Leben“ eingestuft. Ihre Ermordung wurde von den Tätern zynisch als „Gnadentod“ bezeichnet.

Das Veranstaltungsprogramm zum Kunstwerk

Wer sich das Denkmal und die Begleitausstellung über seine Reise durch Deutschland mit einem sachkundigen Führer anschauen möchte, hat am 6. und 15. Oktober die Möglichkeit dazu. Thomas Schlipf, Psychiater am Klinikum Schloss Winnenden und Vorsitzender des Ethik-Komitees, gibt von 15 bis 16.30 Uhr beziehungsweise von 16 bis 17.30 Uhr Informationen zur Psychiatrie in der NS-Zeit, insbesondere in Winnenden, und führt über das Gelände. Anmeldungen nimmt die Volkshochschule entgegen (0 71 95/10 70 12).

Der Historiker Thomas Stöckle leitet die Gedenkstätte Grafeneck und spricht am Donnerstag, 1. Oktober, über das Thema „Grafeneck 1940 und die Heilanstalt Winnenden im Nationalsozialismus“. Der Vortrag beginnt um 19 Uhr im Andachtssaal des Klinikums, Schlossstraße 50. Die Kulturwissenschaftlerin Gudrun Silberzahn-Jandt berichtet am Freitag, 9. Oktober, in der Diakonie Stetten, Schlossberg 37, über neue Forschungen zur Euthanasie und Zwangssterilisation und wirft aeinen Blick auf Opfer und Täter aus Esslingen. Beginn: 20 Uhr, der Eintritt ist frei.

Für Pfarrer und Diakone, Leiter von Seniorenheimen und Pflegekräfte ist die Fortbildung „Kriegskinder im Alter“ gedacht, die am 15. Oktober zwischen 14 und 17.30 Uhr im Winnender Haus im Schelmenholz stattfindet. Sie zeigt auf, wie man die Betroffenen unterstützen kann. Anmeldung bis 5. Oktober unter kuebler@staigacker.de, (0 71 91/14 61 00).

Nüchtern, knapp und sachlich berichtet der Schauspieler Berthold Biesinger bei einer musikalischen Lesung am 3. November von 19.30 Uhr an im Andachtssaal des Klinikums Schloss Winnenden über Grafeneck im Jahr 1940. Täter und Opfer kommen dabei zu Wort – einheimische Arbeitskräfte, dienstverpflichtete NS-Leute, aber auch verzweifelte Angehörige. Susanne Hinkelbein spielt jiddische Lieder am Klavier. Der Eintritt kostet zehn Euro, Anmeldung über die Volkshochschule (0 71 95/10 70 12).

Amateurdarsteller aus Backnang gehen am 14. November der Frage nach, warum es zur Euthanasie gekommen ist. Das Stück ist von 19 Uhr an im Festsaal des Klinikums zu sehen. Am 18. November führt die Stadtarchivarin Sabine Reustle von 15 Uhr an über den Stadtfriedhof und durch den Ortsteil Winnental und erzählt über Opfer und Flüchtlinge. (Anmeldung bis zwei Tage vorher unter 0 71 95/131 01).

Der Rechtsanwalt David Schneider-Addae-Mensah engagiert sich für zwangsweise psychiatrisierte Menschen vor Gericht. Er hält am 20. November, 19 Uhr, einen Vortrag über deren Rechte, und zwar im Festsaal der Landesklinik.