Schon als Kind war Marco verhaltensauffällig, jetzt steht er wegen versuchten Mordes vor dem Tübinger Landgericht. Er hätte früher in die Psychiatrie eingeliefert werden müssen, sagt seine Mutter und beschreibt die Jahre der Ohnmacht.

Tübingen - Die Sache mit dem toten Haustier buchte die besorgte Mutter noch als experimentelle Naivität ab. „Es gibt Kinder, die Schmetterlingen aus Neugier die Flügel ausreißen, machen Sie sich mal keine Sorgen“, beruhigte sie der Psychologe, als ihr Sohn ein neugeborenes Meerschweinchen mit der bloßen Hand zerdrückte. Als er im Kindergarten mit dem Feuerzeug den Puppen der anderen die Haare abfackelte, kam sie ins Grübeln. Alarmiert hat sie eine blutige Schere – mit der er seinem jüngeren Bruder das Ohrläppchen zerschnitten hatte.

 

„Er war so ein süßer Knopf, aber immer auf Ärger aus“, sagt Margrit S. und blättert am Küchentisch in einem Fotoalbum. Das Baby Marco sitzt verschmitzt lächelnd in der Badewanne, es hält als Knirps bei einem Besuch auf einem Bauernhof liebevoll ein Kätzchen auf dem Schoß. „Er fing seine erste Verhaltenstherapie mit fünf Jahren an, zwei Stunden die Woche, eineinhalb Jahre lang“, erinnert sich Margrit S. und atmet tief durch. Das Erzählen wühlt sie auf, so viel hat sie einstecken müssen, so viele Vorwürfe der anderen, so viele Zweifel an sich selbst. „Er hatte auch seine guten Seiten“, schiebt die 51-jährige Kinderkrankenschwester hinterher, „er war schlagfertig, hat immer Witze gemacht, er war kein Monster.“

Manchmal ist sie sich da nicht mehr sicher. Vor Kurzem musste die Mutter dreier Kinder vor dem Tübinger Landgericht in den Zeugenstand, dank eines Beruhigungsmittels hielt sie durch. Angeklagt ist ihr mittlerweile 22-jähriger Sohn, der am 4. November des vergangenen Jahres mit einer Pistole auf den Kopf einer Polizistin gezielt und abgedrückt haben soll. Die Beamtin konnte sich wohl gerade noch rechtzeitig wegducken, ein zweiter Schuss streifte den Oberschenkel eines Polizisten. Marco S. war zuvor in einem psychisch völlig verwirrten Zustand in die Tübinger Nervenklinik eingeliefert und wegen akuten Nierenversagens in die medizinische Klinik verlegt worden. Dort soll er sich von seiner Fixierung befreit, den Blasenkatheter gezogen und die Krankenhauskleidung zerrissen haben. Die vom Personal alarmierten Beamten jagten dem Unbekleideten hinterher, es gab ein Gerangel, bei dem der Flüchtende eine Dienstpistole aus einem Holster ziehen und abdrücken konnte.

Eine tickende Zeitbombe

Die dunklen Seiten ihres Sohnes hat Margrit S. schon früh erkannt, viel früher als ihr lieb war. „Marco war eine tickende Zeitbombe“, sagt sie, „wir hatten so viel Ärger mit ihm und dabei alles versucht, um ihm zu helfen, er war schließlich ein absolutes Wunschkind.“ Weil die Ärzte ihr wenig Hoffnung auf eigenen Nachwuchs machten, hat sie gemeinsam mit ihrem Mann zwei Kinder adoptiert, erst ein Mädchen, dann Marco, direkt aus der Tübinger Frauenklinik, später kam dann doch noch ein Nachzügler zur Welt.

„Wer wünscht sich nicht ein Kind, das eines Tages Medizin studiert und Geige spielt“, sagt Margrit S. lachend und begrüßt ihre Tochter, die an diesem Vormittag mit einem selbst gebackenen Schokokuchen in dem schmucken Einfamilienhaus mit Garten vorbeikommt. Die 24-Jährige ist Krankenschwester, hat sich eine eigene Wohnung gesucht, weil sie die gewalttätigen Überraschungsbesuche ihres Bruders nicht mehr ausgehalten hat. Einmal ging er mit der Axt auf sie los, brüllend und drohend, sie suchte Zuflucht im zentralverriegelten Auto, bis die Polizei anrückte.

Mit 13 ritzte sich Marco das Wort „Hass“ in seinen Unterarm, stahl, schlägerte und flog von der Realschule. Mit Hilfe des Jugendamtes hätten sie eine betreute Wohngruppe in Hechingen gefunden, erzählt Margrit S., die froh war, ihren Sohn in professionellen Händen zu wissen. Doch nach zwei Monaten sei er auch dort rausgeschmissen worden, die Betreuer hätten kapituliert.

Immer wieder fragt sich Margrit S., ob sie etwas falsch gemacht hat in der Erziehung? Klar, die beiden anderen Kinder seien oft zu kurz gekommen, weil sich alles auf Marco konzentriert habe. Aber sonst? Sie hätten nichts unversucht gelassen – Familientherapie, Rollenspiele, Familienaufstellung, raus in den Wald, jede Menge Sport und noch mehr Zuwendung. „Marco blockte alles ab und hielt nie lange durch“, erzählt Margrit S. Sie hatte damals die große Hoffnung, dass das einjährige Jugendprojekt Chance, ein Strafvollzug in freier Form in einer Klosteranlage, ihren Sohn auf die richtige Spur bringen würde. Doch Marco fing vier Monate vor Ablauf des Programms an zu schlägern und kam zum ersten Mal in den Knast – es sollte nicht das letzte Mal sein.

Eine Gefahr für sich selbst und andere

Es sei ein einziger Albtraum gewesen in den vergangenen Jahren, sagt Margrit S., eine zierliche Frau mit roten Haaren, die genug davon hat, für ihren kriminellen Sohn Lehrstellen zu suchen, die er nach wenigen Wochen immer wieder schmeißt. Oder für ihn Wohnungen anzumieten, die sie dann wieder renovieren muss, weil er im Drogenrausch Türen eintritt oder Kücheneinrichtungen mit dem Messer demoliert. „Er hatte schlimme Wahnvorstellungen, nahm Pillen und Pulver aller Art und hätte längst in die Psychiatrie eingeliefert gehört“, sagt Margrit S. Sie versuchte vergeblich die Ärzte und die Polizei davon zu überzeugen, dass ihr inzwischen volljähriger Sohn eine Gefahr für sich selbst, aber für auch für andere darstellt. Er ohrfeigte seine Mutter, trat den Vater und ignorierte immer wieder ein richterlich verfügtes Annäherungsverbot an sein Elternhaus. „Ich dachte immer, irgendwann passiert etwas Schlimmes“, sagt Margrit S. und wurde von der Polizei darüber informiert, dass Marco mit einem Messer in der Hand bewusstlos auf der Straße aufgefunden worden war. „Da kam er nach einem Tag wieder aus der Tübinger Psychiatrie“, ärgert sich die verzweifelte Mutter.

Eskaliert ist die Situation vergangenen November, als Marco am Tag, bevor er auf die Polizistin zielte, in sein Elternhaus kam und der Mutter, die er kaum erkannte, Schläge androhte. Ein kräftiger Kerl, nach jedem Gefängnisaufenthalt noch muskelbepackter, noch aggressiver. Sein Vorbild ist der Rapper Eminem. In ihrer Angst ruft Margrit S. die Polizei. „Das Bild werde ich nie vergessen“, sagt sie und beschreibt, wie vier Polizisten eine Stunde lang den Sohn auf den Esszimmerboden drücken, sie sieht Blut, Kabelbinder, einen abgerissen Nasenring und Schlagstöcke. „Es dauerte ewig bis der Notarzt kam und ihn wegspritzte“, erzählt Margrit S. und war erleichtert, als Marco in die Psychiatrie gebracht wurde.

Eine Erleichterung, die nicht lange anhielt. Tagsdrauf lief überall in den Nachrichten, wie er beinahe zum Mörder geworden wäre. Und sie beinahe zur Mutter eines Mörders. „Ich habe danach vier Wochen kaum geschlafen, musste oft an die Eltern von Tim K. denken, dem Amokläufer von Winnenden.“ Aller Wahrscheinlichkeit nach wird Marco S., der zur Tatzeit vermindert oder gar nicht schuldfähig war, in eine geschlossene Psychiatrie kommen. Seine Mutter will erst mal Abstand, sie braucht Zeit bis sie ihn wieder besuchen wird. „Ich kann eigentlich kaum mehr“, sagt sie, „aber er wird trotzdem immer einen Platz in meinem Herzen haben.“