Seit vier Monaten fährt die S-Bahn-Linie 60 zwischen Böblingen und Renningen. Die Fahrgastzahlen sind hoch. Eine Station wird für gebrechliche Menschen allerdings zur Hürde.

Böblingen - Kerstin Stöller muss sich ganz schön strecken, um in die S-Bahn der Linie 60 zu gelangen. Die Leipzigerin hat Bekannte in Sindelfingen besucht und will jetzt von der Haltestelle Maichingen-Nord zurück zum Stuttgarter Hauptbahnhof fahren. Doch an der Station, die im vergangenen Dezember eröffnet wurde, klafft ein breiter Spalt zwischen Bahngleis und S-Bahn-Waggons. Wenn jemand mit Kinderwagen oder Rollstuhl unterwegs ist – oder vor Kurzem am Knie operiert wurde, so wie Kerstin Stöller –, dann kann dieser Spalt zum Problem werden. Mit der rechten Hand hält sich die Leipzigerin am Türgriff fest und macht einen großen Schritt – geschafft! Die S-Bahn-Türen schließen sich.

 

Seit knapp vier Monaten verbindet die S-Bahn-Linie 60 Böblingen und Renningen. Und die neue Verbindung wird überraschend gut angenommen: 5000 Fahrgäste täglich zählte der Stuttgarter Verkehrsverbund VVS im Februar. Als die S-Bahn-Linie 60 noch im Sindelfinger Stadtteil Maichingen endete, waren es nur 2000. Selbst zur Mittagszeit, mitten in den Osterferien, sind die Waggons gut besetzt: mit Schülern, die ihre Freunde besuchen, Großmüttern, die zu ihren Enkeln wollen, oder Arbeitern auf dem Weg zur Spätschicht.

In der Hälfte der Zeit am Arbeitsplatz

Viele Fahrgäste profitieren von der neuen Verbindung: Der Sindelfinger Schüler John Gunsch etwa brauchte früher eine Dreiviertelstunde, um mit Bus und S-Bahn zu seiner Schule in Weil der Stadt zu kommen. Mit der S 60 ist es nur noch eine halbe Stunde. „Am Wochenende war es am schlimmsten“, erzählt der 14-Jährige. „Der Bus fuhr selten und kam manchmal gar nicht. Die S 60 fährt sogar sonntags halbstündlich.“ Auch für eine 53-jährige Verkäuferin, die ihren Namen nicht in der Zeitung lesen will, stellt die neue Linie eine Erleichterung dar. Sie pendelt täglich von Renningen ins Böblinger Gewerbegebiet Hulb. Dafür brauchte sie früher wegen der schlechten Anschlüsse häufig eine ganze Stunde. Heute ist sie in der Hälfte der Zeit an ihrem Arbeitsplatz.

Großer Abstand zwischen Bahngleis und Waggons

Doch es gibt auch Kritik an der neuen Linie: Von den neuen Stationen gilt besonders die in Maichingen-Nord wegen des großen Abstands zwischen Bahngleis und Waggons als problematisch. „Das ist nicht gut gemacht und sehr ungünstig“, findet auch Hilda Jasper. Die Bad Cannstatterin ist beinahe 80 Jahre alt und hat beim Überqueren der Spalte ähnliche Probleme wie die Leipzigerin Kerstin Stöller nach ihrer Knieoperation. Der Grund für den großen Abstand zwischen Bahnsteig und Zug sei, dass die Station Maichingen-Nord in einer Kurve liege, sagt ein Sprecher der Deutschen Bahn. Sie ist die Betreiberin der Strecke. Weil sich die Waggons nicht in die Kurve „schmiegen“ könnten, sei der Spalt größer als bei Stationen auf gerader Strecke. Sie sei allerdings „nach gängigen Standards gebaut und genehmigt worden“, sagt Dorothee Lang, die Sprecherin des Verbandes Region Stuttgart (VRS). Der Verband hat den Streckenbau mitfinanziert.

Kurz nach der Eröffnung kritisierten Fahrgäste auch, dass bei den Fahrten von Stuttgart stadtauswärts unklar sei, welche Waggons nach Weil der Stadt und welche nach Böblingen fahren würden. In Renningen wird die S-Bahn-Linie nämlich geteilt, in der Regel fährt der vordere Zugteil nach Weil der Stadt und der hintere nach Böblingen. Das Problem: in den Waggons selber gibt es keine Displays. Die Fahrgäste müssen also bereits beim Einsteigen den richtigen Zugteil erwischen – oder in Renningen, wenn die Durchsage des Lokführers kommt, schnell den Wagen wechseln. „Wer täglich fährt, kommt inzwischen klar“, berichtet die Renninger Verkäuferin, die regelmäßig die S 60 benutzt. „Aber Auswärtige fragen mich oft, wo sie denn genau einsteigen müssten.“