Kampf ums Publikum: DLV-Ehrenpräsident und IAAF-Funktionär Helmut Digel spricht im StZ-Interview über die EM in Helsinki und die Probleme der Leichtathletik.

Helsinki -Helmut Digel hat die Leichtathletik-EM in Helsinki als Gast vor Ort verfolgt. Der Ehrenpräsident des Deutschen Leichtathletik-Verbandes sah eine gute deutsche Mannschaft, die bei der olympischen Generalrobe gleich sechs EM-Titel gewann und insgesamt 16 Medaillen holte – was Platz eins im Medaillenspiegel bedeutete. Doch der Marketingexperte des Weltverbandes IAAF sah auch viele leere Plätze im Stadion und viel Leerlauf.
Herr Digel, der europäische Verband erhofft sich von der EM alle zwei Jahre einen Schub. Was sagen Sie nach der Premiere?
Da schlagen zwei Herzen in meiner Brust. Aus deutscher Sicht freuen mich die Erfolge unserer Nationalmannschaft und die Aufmerksamkeit, die die EM erzielen konnte. Aus Sicht des Weltverbandes IAAF habe ich Bedenken. Der Wettkampfkalender ist ohnehin schon überfüllt – und die Belastungen werden auf dem Rücken der Athleten ausgetragen. Zudem fürchte ich, dass man die Titel entwertet, auch dadurch, dass gleich das nächste Highlight folgt.

Etwas enttäuschend war der Zuschauerzuspruch im eigentlich leichtathletikbegeisterten Finnland. Woran liegt das?
Das kann man nicht den Finnen vorwerfen – und es ist auch kein spezifisch finnisches Problem. Die Organisatoren sind gefordert und müssen die Frage beantworten: Wie kann man Leichtathletik attraktiver und spannender gestalten? Wir müssen einfach erkennen, dass das Leichtathletikpublikum immer älter wird, es bewegt sich jenseits der 50. Wir sind für junge Menschen nicht sehr attraktiv, das belegen leider alle Umfragen.

Fehlen die Stars?
Das ist sicher ein Punkt. In Helsinki wurde alles auf den Speerwerfer Tero Pitkämäki zugeschnitten, doch der ist auf der Zielgerade seiner großen Karriere. Wir können Zuschauer nur dann an uns binden, wenn wir mittel- und langfristig Athleten bieten können, die auch für ein Laienpublikum anschlussfähig sind. Daran mangelt es in Europa. Wir in Deutschland haben es vielleicht einfacher. Wir haben zum Beispiel mit Robert Harting einen Mann, der die Starrolle einnimmt. Er ist kein aalglatter Typ, sondern er hat Widersprüche, er polarisiert, und er hat Brüche – die muss man nicht gut finden, aber das Prinzip funktioniert. Das, was Usain Bolt für die Weltleichtathletik ist, das ist Robert Harting für die deutsche Leichtathletik.

Macht sich die IAAF Sorgen um Europa?
Der Anteil der Länder außerhalb Europas, die Finalplätze schaffen, steigt stetig an. Für die globale Leichtathletik ist das einerseits gut, auf der anderen Seite braucht die IAAF Europa. Ohne Europa hat die Welt-leichtathletik keine TV-Chancen, vom Marketing gar nicht erst zu reden. Wir verkaufen unser Produkt vor allem auf dem europäischen Kontinent. Toyota oder Seiko sind genau deswegen unsere Partner, weil sie Interesse an Europa haben. Damit die Rechnung aufgeht, braucht man europäische Helden. Wir müssen alles tun, um die Leichtathletik in Europa zu stärken. Man sollte sich vor Augen halten: der DLV ist einer der wenigen Verbände, dessen nationale Titelkämpfe im Fernsehen übertragen werden und bei denen Menschen bereit sind, Eintrittskarten zu kaufen.

Aber heißt es nicht immer, dass die neuen Märkte im Osten zu finden sind?
Nächstes Jahr bei der WM in Moskau wird man sehen, wie schwer es sein wird, dort ein großes Stadion zu füllen. Wir sind in Russland keineswegs so populär, wie man meinen könnte. Und die Zeit der Sowjetunion ist vorbei, die Polizei oder das Militär füllt nicht mehr die Stadien. Wir müssen uns auf dem freien Markt behaupten. In China oder zuletzt in Daegu sorgt der Staat dafür, dass die Stadien voll sind. Doch der wahre Indikator für die Popularität einer Sportart ist: Wer kauft sich freiwillig eine Eintrittskarte? Und das tun außerhalb von Europa wenige. Man kann deshalb durchaus sagen: Deutschland ist die Hochburg der Weltleichtathletik.

Was also tun?
Alle Sportarten wollen das gleiche junge Publikum. Der Konkurrenzkampf nimmt zu. Die Präsentation der sportlichen Leistungen wird dabei zur Schlüsselfrage. Wir müssen vor allem den Zeitplan optimieren. Am ersten EM-Tag in Helsinki gab es beispielsweise nur eine Entscheidung. Es muss doch möglich sein, 40 Entscheidungen besser zu verteilen. Auch das Programm selbst muss kompakter werden. Wir haben Verweilzeiten im Stadion von mehr als sechs Stunden – das kann man heute doch keinem Zuschauer mehr zumuten. Bei der Leichtathletik gehen deshalb die Leute flanieren und ein Bier trinken oder eine Wurst essen – während auf der Bahn dann die Entscheidungen stattfinden. In jeder Disziplin müssen wir uns fragen: Geht es nicht vielleicht doch schneller und kompakter?

Wobei das EM-Programm schon mächtig gestrafft wurde.
Das finde ich auch prinzipiell gut, die IAAF beharrt ja leider immer noch auf neun Wettkampftagen bei der WM. Aber wir brauchen eine weitere Verdichtung – und wir wären gut beraten, die Vormittage mit den ganzen Qualifikationen anders zu gestalten. Die finden ja meist unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt.