Inzwischen gibt es auch einen Apparat für Eltern. Dort meldete sich neulich ein Pfarrer: "Ich nehme wahr, dass meine Kinder zunehmend unter dem Druck der schulischen Erwartungen leiden." Uwe Bodmer kann das bestätigen. "Die Angst vor schlechten Noten ist bei uns am Telefon ein Dauerbrenner", sagt er. "Irgendwas läuft elementar schief in dieser Gesellschaft." In der Praxis von Marie-Luise Hepp wird manches wieder gerade. Bei ihr lernen Eltern und Kinder, sich zu vertrauen. Dafür braucht es Geduld. "Gebt der gemeinsamen Zeit eine eigene Qualität", lautet ihre Botschaft. "Vertraut in eure Kinder und genießt die Zeit, die ihr miteinander habt." Doch so leicht ist das offenbar nicht. Statt über die kleinen Wunder zu staunen, die sich bei Kindern jeden Tag neu vollziehen, verzweifeln viele Eltern daran, dass ihre Kinder keine Wunderkinder sind. Für einen Moment schaut die Ärztin ins Wartezimmer. Es ist noch einiges zu tun.

Am Türrahmen hängt eine Karte, auf der steht: "Du musst die Welt nicht verstehen. Aber du musst einen guten Platz darin finden." Frau Hepp hilft bei der Suche. Nicht eine Sprechstundenhilfe nimmt das Telefon ab. Sie macht das selbst. Das hat den Vorteil, dass sie auch den Eltern begegnet und ihre Schwingungen spürt. Kinder begleiten heißt auch Eltern begleiten. Beide stehen oft gleichermaßen unter Bewährungsdruck. "Ich erlebe Erwachsene häufig sehr verunsichert", sagt Frau Hepp. "Gerade dort, wo die Welt scheinbar in Ordnung ist, werden oft sehr hohe Mauern um das Privatleben gezogen, hinter die kaum jemand blicken kann." Vieles geht schon in den ersten Schuljahren schief. Fast jedes zehnte Kind ist heute bereits mit fünf in der Grundschule. Alles soll schneller gehen im globalen Verdrängungswettbewerb. G8 im Gymnasium, verkürztes Bachelorstudium. Immer mehr Stoff wird in kleine Köpfe gepresst. Wachstum geht vor, wie später in der Wirtschaft. Die großen Köpfe befeuern die Selbststeigerung.

Sie achten auf Zehntelsnoten und trimmen den Nachwuchs auf Konkurrenz. "Wir lassen uns vermessen", sagt Marie-Luise Hepp. "Das ist die große Verführung." Experten wie der Schweizer Professor und Bestsellerautor Remo H. Largo glauben, die Ursachen zu kennen: "Die Erwartungen, Ansprüche und Ängste von Eltern haben in beängstigender Weise zugenommen. Viele haben Zukunftssorgen. Sie fürchten um ihren Arbeitsplatz und um die finanzielle Sicherheit. Deshalb haben sie auch Angst um den Erfolg ihrer Kinder. Hinzu kommt, dass die meisten Menschen heute nur noch ein oder zwei Kinder bekommen. Der Wert des einzelnen Kindes ist also enorm gestiegen. Es sind Wunschkinder, aus denen etwas Herausragendes werden soll." Was aber ist mit dem Mittelmaß, was mit den Schwächeren? Was ist mit denen, die durchhängen, weil es zu Hause nicht rund läuft? Was ist mit Kindern, die heute noch nicht so weit sind, aber vielleicht morgen? "Wir haben für sie zu wenig Zeit!" Diesen Satz hört Frau Hepp oft in ihrer Praxis. Sie sieht das ein bisschen anders. Der Tag hat 24 Stunden, das hatte er auch schon bei den Sauriern", sagt sie. "Es kommt darauf an, mit was wir diese Zeit füllen.

Das Innehalten und Verweilen ist für viele kein Wert mehr." Die Ärztin nimmt eine Kugel aus Mooreiche aus dem Regal im Sprechzimmer, als wollte sie das Gesagte illustrieren. Die Kugel ist auf der einen Seite weich wie ein Kinderpopo, auf der anderen hat sie Risse und ist rau wie Schmirgelpapier. Bei ihr dürfen Kinder beide Seiten zeigen. So wie Anja, die gerade im Nebenzimmer ein Bild malt. Sie zeichnet ein Mädchen mit einem Herzen, in dem ein Friedhofskreuz steckt. "Wir achten zu wenig aufeinander", sagt Marie-Luise Hepp mit einer Stimme, die so warm ist, dass es auf der Haut kitzelt. Sie sieht ein bisschen traurig aus. Der letzte Patient hockt im Wartezimmer. Ein Mädchen, das unter den Folgen des Amoklaufs von Winnenden leidet. Ihre Schule ist nicht in Winnenden, sondern ein gutes Stück entfernt. Sie musste sich damals im Klassenzimmer auf den Boden legen, Hände über den Kopf, eine Stunde lang. Keiner wusste, wo der Schütze ist, ein Junge, der in unfassbarer Weise ausgerastet ist. Das hat traumatische Erlebnisse, die weiter zurückliegen, bei ihr freigelegt. Bleischwere Angst sitzt jeden Tag neben ihr in der Schule.

Frau Hepp arbeitet dagegen an. Haben sich unsere Kinder verändert? Oder spiegeln sie nur wider? Was tun wir ihnen an, wenn sie nicht mehr Kinder sein dürfen, wenn sie zu Projektionen von Erwachsenen werden, die ihre eigene Identität über sie definieren? Was geht in Kindern vor, wenn sie nach dreieinhalb Jahren Schule auf zwei Noten reduziert werden, auf die Zukunftschancen erteilt werden? Was passiert in ihnen, wenn Dressur vor Lernen kommt? Was löst es aus, wenn den Kleinen vor lauter Fürsorge der Großen zwischen gedrängtem Schulprogramm, Musik und Sport keine Zeit mehr fürs Spielen bleibt? Einfache Antworten gebe es nicht, sagt die Kinderpsychiaterin nach einem langen Tag in der Praxis. Sie ist sich nur in einem sicher: "Wir müssen wieder mehr in Entwicklung denken." Das sei aus der Mode gekommen in einer Zeit, in der alles auf Knopfdruck gehen soll. Draußen hat sich unangemeldet eine Frau ins Wartezimmer geschlichen. Eine Mutter, die nicht weiterweiß. Der Sohn macht ihr Probleme. Vielleicht ist es auch umgekehrt. Frau Hepp bleibt länger.