Der amerikanische Rockstar Lenny Kravitz legt ein neues Album vor, das viele Stile vereint. Nur nach Rock klingt das meiste nicht.  

Kultur: Jan Ulrich Welke (juw)

Stuttgart - "Black and white America" hat Lenny Kravitz sein neues Album getauft, als Zustandsbeschreibung einer nach wie vor gespaltenen US-Gesellschaft will er es jedoch nicht verstanden wissen. Ganz im Gegenteil. "Ich will sagen: Amerika ist jetzt weiß und schwarz, samt allen Schattierungen. Niemand ist mehr ausgeschlossen", hat er dieser Tage in einem Interview verkündet. Das mag man entweder blauäugig oder optimistisch finden, vielleicht gründet sich diese Ansicht aber auch einfach aus der privilegierten Sonderstellung, die Kravitz einnimmt und mit der er die Weltläufte womöglich ein wenig verzerrt wahrnimmt.

 

Denn Lenny Kravitz ist der einflussreichste schwarze Rockmusiker, den es auf der Welt derzeit gibt. Überdies gehört er einer seltenen Spezies an: Der Übervater Jimi Hendrix und der Thin-Lizzy-Bassist Phil Lynott sind beide tot, der frühere Guns-N'-Roses-Gitarrist Slash, Sohn einer afroamerikanischen Mutter, hat den Zenit seiner Karriere einstweilen hinter sich. Kele Okereke, den Sänger von Bloc Party, könnte man vielleicht noch nennen, seinen Sängerkollegen Lajon Witherspoon von Sevendust sowie die Bands Living Colour und Bad Brains - doch dann endet die Liste bekannter schwarzer Rockmusiker auch schon. Berühmte schwarze Rockmusikerinnen muss man gar mit der Lupe suchen: Gerade einmal Tina Turner, die ihre Karriere allerdings schon vor Jahren beendet hat, und Skin von Skunk Anansie kommen einem hier in den Sinn. Alexis Brown von Straight Line Stitch, Jada Pinkett-Smith von Wicked Wisdom und Yvonne Ducksworth von Jingo de Lunch sind als Musikerinnen allenfalls semiprominent.

Schwarze Musik ist in der Neuzeit Hip-Hop

Die Diskrepanz ist so bedenkens- wie bemerkens- und bedauernswert. Schwarze Musik, das ist offenkundig nach wie vor - historisch betrachtet - Blues, Soul, Funk, Reggae, Pop und in der Neuzeit Hip-Hop, das sind Musiker wie B.B. King, Aretha Franklin, Prince, Bob Marley, Michael Jackson oder Jay-Z - und das sind nahezu ausnahmslos Stile, denen sich auch der schwarze Musiker Lenny Kravitz weder verweigern kann noch will. Auf seinem neuen Album adaptiert er sie allesamt weit ausgiebiger als auf seinen früheren Veröffentlichungen.

Den Rapper Jay-Z etwa hat sich der Rockmusiker Kravitz auf seinem nunmehr neunten Studioalbum für das Lied "Boongie Drop" als Gast geladen. Herausgekommen ist eine jener Afro-Bigbeat-Dancefloornummern mit Sprechgesangseinsprengseln, wie sie wahrlich nicht zum ersten Mal gehört ward. Den Posaunisten Trombone Shorty, Shootingstar unter den Nu-Jazz-Musikern, hat sich Kravitz hingegen für fünf andere dieser mit sechzehn Songs bis zum Anschlag gefüllten CD ins Studio geholt: die Pianoballade "Dream", die Popsongs "Black and white America" und "Push" , die reinrassige Funknummer "Life ain't ever been better than it is now" sowie den - ja, tatsächlich! - Rocksong "Come on, get it".

Seite 2: Zu viel um von einem Rockalbum zu sprechen


Rocksongs gibt es nämlich auf dem neuen Album des Rockgitarristen Lenny Kravitz auch. Sie sind allerdings in der Minderheit, und sie sind allesamt so schematisch eingespielt, dass man fast schon eine Stoppuhr mitlaufen lassen möchte: Intro, Strophe, Bridge und nach knapp über einer Minute der Refrain. Wieder und wieder. Das ist einfallsarm und reicht künstlerisch nicht an die großen Kravitz-Lieder wie "Fly away", "Always on the Run", "It ain't over till it's over" oder "Are you gonna go my Way" von seinen früheren Alben heran.

Der zweite Einwand gegen dieses Album ist seine stilistische Unentschiedenheit. Geboten wird Soul mit Falsettgesang ("Liquid Jesus"), Synthiepop ("In the black") und blubbernder Dancefunk ("Superlove") - ganz schön viel also. Zu viel? Zu viel auf jeden Fall, um angesichts dieses Kaleidoskops von einem Rockalbum zu sprechen. Zu wenig findet sich indes auf diesem eingängigen und formatradiotauglichen, textlich keineswegs überkomplexen Werk, von dem man sagen könnte, dass es sich im Hörgedächtnis festkrallt. Etwas mehr markante Positionierung und Reduktion auf wirklich ausgewählte Stücke (die De-Luxe-Version des Albums enthält neben einer Bonus-DVD sogar noch zwei zusätzliche Akustikversionen) hätte Kravitz gut getan.

Zwischen Beliebigkeit und stringentem Konzept

Umgekehrt ist das Album aber so solide bis stellenweise wirklich gut eingespielt und blitzsauber produziert - etwa der munter polternde Rocker "Everything". Auf dem schmalen Grat zwischen Beliebigkeit und stringentem Konzept, auf dem jeder wandelt, der ein stilistisch vielfältiges Album vorlegt, stürzt Lenny Kravitz nicht ab.

Man möchte ihm die vielfältigen Einflüsse und die frommen inhaltlichen Wünsche folglich tatsächlich als Vision eines funktionierenden, liberalen und sozial gerechten Schmelztiegels abnehmen, den sich allerdings weite Teile der amerikanischen Gesellschaft - gerade in diesen Tea-Party-Zeiten - ganz anders vorzustellen scheinen. Aber es ist ja vielleicht die vornehmste Aufgabe eines Künstlers, mit seinen Ausdrucksmitteln einen Beitrag zur Versöhnung seines innerlich zerrissenen Heimatlands leisten zu wollen. Auch wenn man von anderen Künstlern schon eindeutigere Statements vernommen hat: dieses Album von Lenny Kravitz ist auf seine Weise wichtig und richtig.

Das Album "Black and white America" ist bei Roadrunner Records/Warner als CD sowie De-Luxe-Edition mit DVD und Bonus-Tracks erschienen. Im Herbst kommt der exzellente Livemusiker Lenny Kravitz für fünf Konzerte nach Deutschland, darunter am 5. und 23. November nach Mannheim und München.