Künstler wie der Autor Orhan Pamuk und die Choreografin Sasha Waltz haben sich auf dem Monte Verità in Ascona mit dem Thema „Utopie und Gedächtnis“ auseinandergesetzt.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Stuttgart - Nackt war niemand. Höchstens die gleichschenkligen Glieder des Ikosaeders. Auf einer Hügelkuppe glänzt sein Idealkörper in der Sonne. Eine zierliche Frau nähert sich ihm an, während ein mächtiger Wind vom See herauf bläst. Es gab auf dem Monte Verità in Ascona Zeiten, in denen Besucher von einem nahe gelegenen Hotel aus gegen Geld einen Blick auf nackte Naturmenschen werfen konnten, die sich in ausgiebigen Luftbädern die Übel der Zivilisation abwuschen. Längst sind sie verschwunden, geblieben ist das Ikosaeder. Es ist eine Art Klettergerüst, zusammengesetzt aus lauter gleichschenkligen Dreiecken. Der ungarische Tanzerneuerer Rudolf Laban hat dem symmetrischen Gebilde einst seine Art Harmonielehre des Raumes abgemessen.

 

Hier oben, dreihundert Meter über dem Lago Maggiore, stand einmal die Wiege des  modernen Ausdruckstanzes, legendäre  Tänzerinnen wie Mary Wigman oder Suzanne Perrotet gingen aus ihr hervor. Und die Neugierige, die ihren Körper gerade an die Stangen schmiegt, ist eine ihrer bedeutendsten Erbinnen, die Tänzerin und Choreografin Sasha Waltz. Am Abend wird sie im Teatro San Materno am Fuße des Wahrheitsberges auf ihre Weise Labans Ausdruckswelt erkunden, über den trennenden Abgrund der Zeiten hinweg. Auch da wird ein frischer Wind wehen, der falsche Weihen zerstreut, Gesten aufwirbelt und flüsternd durch die feinen rhythmischen Strukturen der amerikanischen Perkussionistin Robin Schulkowsky fährt.

Lieber optimistische Realisten als utopische Fantasten

Die Künstler sind zurück auf dem Monte Verità, der im betäubend schönen Frühlingslicht über dem glitzernden See schwebt. Seit zwei Jahren versucht ein Literaturfestival unter der Leitung des Dichters und Impresarios Joachim Sartorius, diese erhabene Experimentierbühne alternativer Lebensentwürfe dem Vergessen zu entreißen, dieses Mal unter dem passenden Motto „Utopie und Gedächtnis“. „Die großen Entwürfe haben Schiffbruch erlitten, aber im individuellen Gedächtnis lagern noch Utopien – wer soll sie heben, wenn nicht der Schriftsteller“, eröffnet Sartorius zu Beginn des viertägigen Veranstaltungsparcours die Perspektive in dem wunderschönen Bauhaushotel, das seit 1928 mit klaren Formen die auf dem Wahrheitsberg einst wuchernde Ideenwildnis überragt.

Auf die Antwort des Eröffnungsgastes, des türkischen Literaturnobelpreisträgers Orhan Pamuk, hätte man hundert Jahre nach dem türkischen Genozid an den Armeniern durchaus gespannt sein dürfen. Allerdings wich er allen politischen Fragen   aus, was sowohl die Utopie wie das Gedächtnis einer zentralen Dimension beraubt. Statt politisch argumentiert Pamuk unverfänglich darwinistisch, seine Thesen zur Überlebensnotwendigkeit der Erinnerung münden in den Satz, der Mensch habe hundert Tonnen Erinnerungen angesammelt, aber nur hundert Gramm Utopie. Was er offensichtlich begrüßt. „Utopien sind nie die Sache von Personen, sondern wenden sich an die Gemeinschaft, an die Nation, an die Menschheit, im Dienste dieser großen Kollektive legitimieren sie Gewalt und Unterdrückung.“ Optimistische Realisten seien ihm lieber als utopische Fantasten.

Kurzweilige Wortscharmützel

Von Letzteren gab es hier oben einmal eine ganze Menge. Der Anteil von Gedächtnis und Utopie dürfte sich eher umgekehrt zueinander verhalten haben, als von Pamuk vorausgesetzt. Kraft seiner geologischen Beschaffenheit soll der Berg über magnetische Eigenschaften verfügen. Jedenfalls zog er zu Beginn des letzten Jahrhunderts alle Moden, in die sich der Traum vom besseren Leben kleidete, unwiderstehlich an, wenn man von dem Bedürfnis, gar keine Kleider mehr zu tragen, überhaupt noch von Mode im strengen Sinn sprechen kann. Alle Arten von Ismen summten um den Berg wie um einen Bienenstock: Primitivismus, Dadaismus, Anarchismus, Vegetarismus, Nudismus – Alkoholismus nicht zu vergessen, von dem Hermann Hesse sich hier kurieren lassen wollte, „nackt und aufmerksam wie ein Hirsch“ durch die Gegend strolchend. Die einen wollten das Korsett abschaffen, andere das Geld, die Dritten die Großbuchstaben. Ob die Welt durch Ausdruckstanz zu retten sei, durch freie Liebe oder die Revolution, darüber gingen die Meinungen auseinander, auch Lenin soll einige Zeit zu Gast gewesen sein – wie nahezu jeder, dessen Name in der Kulturgeschichte der Zeit eine Rolle spielt. Den Spinnern folgten die Künstler, den Künstlern die Touristen und den Touristen irgendwann niemand mehr, außer reiche Rentner, deren Alterssitze heute in unschöner Einfalt die Hänge emporkriechen. Während die Hippies begannen, Hesse zu lesen, die 68er den Sex revolutionierten und ein Teil der lebensreformerischen Saat in Biosupermärkten aufzugehen begann, schlummerte der Berg und wurde zusehends zum Fall einer schönen Erinnerung.

Womit man wieder beim Thema wäre. In dessen Zentrum führte das kurzweilige Wortscharmützel zwischen der Literaturwissenschaftlerin Barbara Vinken, dem Schweizer Philosophen Georg Kohler und dem blitzgescheiten Konversationsgenie Iso Camartin. Die Gesellschaft sei utopiesüchtig, um sich der Durcharbeitung des in der Geschichte angehäuften Schreckens zu entziehen, sagte Vinken. Utopie seien Formen einer überspannten Transzendenz, die den Horror der ewigen Wiederkehr von Gewalt, Krieg und Unterdrückung nur überdecken. Kohler unterschied demgegenüber zwischen Erlösungsutopien und Verbesserungsutopien. Erstere dürften die sein, vor denen Pamuk graut. Letztere entwickeln das gesellschaftliche Leben durch Aufklärung, Vernunft und kultivierten Streit. Einen solchen erlebe man gerade zwischen dem „wunderbaren griechischen Finanzminister Varoufakis“, der den Griechen den Stolz zurückgegeben habe, und Merkel, die zu begreifen scheine, dass klugen Gespräche mehr bringen als dumpfe Diktate. Vielleicht hängt es mit der landschaftsmagnetischen Dauereuphorie zusammen oder mit der explosionsartig anhebenden Magnolienblüte, dass man sich an den hohen Spaßfaktor dieser Auseinandersetzung deutlicher erinnert, als an den daraus resultierenden Erkenntnisgewinn.

Das Gedächtnis der Dinge

Den Aufstieg zur Verità unternahmen die Autoren von unterschiedlichsten Seiten. Man kann nicht sagen, dass jeder oben ankam. Manche wie Terezia Mora oder Jerôme Ferrari endeten dort, wo sie in jedem beliebigen Literaturhaus enden könnten: im eigenen Werk ohne plausible Verbindung mit dem Ganzen. Schön war es trotzdem. Manchmal nämlich führen gerade die obskursten Umwege auf den Gipfel der Weisheit. Hatte Pamuk das intime Gedächtnis der Dinge beschworen, die er in seinem Istanbuler Museum der Unschuld versammelt, so zauberte der Schriftsteller Thomas Hürlimann aus einem extra für den Vortrag im Supermarkt erworbenen roten Regenschirm das Denken Friedrich Nietzsches hervor. Jeder Schirm vereinige nämlich die zentralen Gegensätze in sich: in dem baldachinartigen oberen Teil das Himmelsgewölbe mit der Erde in der Schlangengestalt des gekrümmten Stabes. So gesehen seien Schirme Mittelwesen wie Engel. Nietzsches Denken wiederum beruhe auf der Erkenntnis, dass es eine Grenze zwischen oben und unten nicht gebe, beide seien vielmehr eins, alle Gegensätze lösen sich im Menschen auf, dieser „unbeschirmten Schirmexistenz“. Endlich fällt ein Licht auf den bis dahin rätselhaften, nun aber zentralen Satz in der Werkausgabe: „Ich habe meinen Regenschirm vergessen.“

Nach solcher fröhlichen Wissenschaft vom Übermenschen ist man bestens präpariert für das gewaltige Werk, das Raoul Schrott am letzten Tag vorstellt. Nachdem der österreichische Dichter und universalgelehrte Ursprachler zuletzt mit einer Übersetzung der ältesten Quelle der griechischen Literatur, Hesiods „Theogonie“, hervorgetreten ist, arbeitet er seit fünf Jahren daran, auf der Basis fortgeschrittenster wissenschaftlicher Erkenntnisse die Entstehung der Welt neu zu erzählen. Schrott, in dessen bärtiger Erscheinung Hesiod, Karl May und Reinhold Messner zusammenfinden, erzählt von der Recherche zu seinem „Epos Erde“: von den Reisen zum ältesten Gestein in den Wüsten Australiens, von Begegnungen mit wilden Bären und dem Blick in die alten Abgründe der Zeit. Man hätte ihm Milliarden Jahre zuhören können. Und dann waren sie doch noch da: die Nackten. In einem alten Luftbadehaus wurde ein Freskenzyklus Elisar von Kupffers aus der goldenen Zeit am Monte Verità geborgen. Lauter tanzende Hermaphroditen, in denen sich die Gegensätze verflüssigt haben. Irgendwie erinnern sie an einen roten Regenschirm.