Familie/Bildung/Soziales: Hilke Lorenz (ilo)
Ist „Stille Nacht“ für Sie noch mehr als eine – böse gesagt – folkloristische Einlage?
Schützer Ja.
Gehring Wir verbreiten mit unserer Stimme ja ein Gefühl, eine Stimmung. Über ein Lied nimmt man eine Schwingung auf und gibt sie weiter. Wenn man gemeinsam schwingt, hat zwar jeder seine eigenen Bilder und Erfahrungen. Aber dabei geht es nicht mehr um Kommerz. Und es geht auch nicht darum, ein toller Sänger zu sein, dem zugehört wird. Ich will vielmehr etwas geben, was die Zuhörer mitnehmen. Das ist bei Hochzeiten und Trauerfeiern genauso. Wir können ein Gefühl über unsere Stimme transportieren. Das hat jeder in sich.
Schützer Das glaube ich auch. Gerade wenn ich „Stille Nacht“ höre, ist das natürlich ein Lied, was einem an jeder Ecke entgegentönt. Aber wenn ich daran denke, dass ich „Stille Nacht" im Spätgottesdienst an Heilig Abend in einer wunderbaren Atmosphäre zum Schluss mit ganz vielen Menschen singe, die vielleicht nur einmal im Jahr singen, hat das für mich nichts Folkloristisches. Das ist höchstens im besten Sinne volkstümlich. Es hat mit Traditionen zu tun, die ich gerne in unserer Gesellschaft verankert haben möchte. Wenn nämlich ein Miteinander von Menschen entsteht, das mir einfach sehr gut gefällt.
Gehring Genau, es geht um das Miteinander. Wir können mit unserer Stimme zu diesem gemeinsamen Gefühl beitragen. Es gibt diese Momente, da ist der Kopf weg, da fließt es einfach aus einem heraus.
Frau Schützer, geht Ihnen das auch so, dass das Ich beim Singen unwichtig wird?
Schützer Wenn man Musik studiert und sich mit seiner eigenen Stimme beschäftigt, kommt man in einer anderen Weise mit sich selbst in Berührung. Da gilt das Gleiche wie für unsere Schüler. Das Studium ist ein großer Teil Persönlichkeitsbildung, weil man mit dem eigenen Vermögen in Kontakt kommt. Für mich persönlich ist wichtig, das auch zu pflegen. Denn das ist ein Kontakt zu mir selber, ein Mittel, um mich ausdrücken zu können. Eine Sprache, die mir entspricht und mir gefällt. Und wenn man mit anderen zusammen singt, nimmt man miteinander an etwas teil. Und wenn viele Menschen zusammenkommen, die sonst überhaupt nicht singen, kommt doch der eine oder andere dazu, einfach mitzumachen und sich mit seiner Stimme zu äußern, die so in ganz vielen Bereichen unserer Gesellschaft nicht mehr vorhanden ist. Denn es gibt zwar eine große Tradition des Singens in diesem Land, aber wir merken auch ganz deutlich, dass es das selbstverständliche Singen nicht mehr gibt.