Der Poet und Theologe Ernesto Cardenal beginnt seine Lesereise zusammen mit dem Ensemble Grupo Sal in Ludwigsburg. Ein bisschen Husten hindert den 87-Jährigen nicht daran, das Publikum in seinen Bann zu ziehen.

Familie/Bildung/Soziales: Hilke Lorenz (ilo)

Ludwigsburg - Der Poet hat Husten. Der ist manchmal so grässlich, dass er dem Dichter den Atem raubt. Energisch kämpft Ernesto Cardenal gegen diese Störquelle an. Aufgeben mag er nicht. Der 87-Jährige aus Nicaragua hat schon schlimmeren Gegnern Paroli geboten. Für seine Anhänger ist er die Verkörperung des lebenslangen Kampfes für einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz. Cardenal kämpfte gegen den despotischen Somoza-Clan gekämpft. Als die Sandinisten in dem mittelamerikanischen Land den Diktator vertrieben hatten, übernahm der Dichter und Theologe das Amt des Kultusministers. Aber 1994 brach er mit den neuen Machthabern. Der Staat der Sandinisten deckte sich nicht mit seinen Idealen. Bereits 1985 hatte Papst Johannes Paul II. Cardenal von seinem Amt als katholischer Priester suspendiert.

 

Erster Auftritt seiner Lesereise

Nun sitzt die Symbolfigur der Befreiungstheologie, manchmal ein bisschen in sich zusammengesunken, aber immer ganz aufmerksam, mit einem Stift noch seine Texte bearbeitend, in der Ludwigsburger Friedenskirche. Wenn er sich lächelnd für den Applaus bedankt, hebt er die rechte Hand, als grüße er die Genossen bei einer Parteiveranstaltung. Cardenal ist ein Mensch, der viele Leben in einem vereint. Um manchmal blitzt eben eine der verschiedenen Facetten ganz deutlich auf.

Es ist der erste Auftritt seiner Lesereise, den er am Freitagabend absolviert. Also hält er trotz Hustens durch – getragen von der großen Zuneigung seines Publikums. „Er wollte sie alle nicht enttäuschen“, erklärt zu Beginn des Abends Lutz Kliche. Er hat die aktuelle Ausgabe von Cardenals poetischem Gesamtwerk betreut, aus dem der 87-Jährige in der vollen Friedenskirche liest. Und Kliche ist an diesem Abend auch die deutsche Stimme Ernesto Cardenals. Im Wechsel lesen er und der Dichter aus den Liebesgedichten der frühen Jahre. „Nur für dich sind diese Verse“, schreibt der Dichter an Claudia, die seine Liebe nicht erwidert. Großen Raum nehmen die Texte aus Cardenals „Kosmischen Gesängen“ ein. Darin finden sich für den Zuhörer ganz aktuell anmutenden Zeilen wie „die Bankiers kamen wie Haie“. Und in einem seiner bisher unveröffentlichten Gedichte geht Cardenal mit der Gewinnung des für die Handy-Herstellung notwendigen Rohstoffes Kotan ins Gericht. Dafür, so klagt er an, geben Menschen im Kongo ihr Leben. Für etwas Leichtigkeit inmitten der politischen Lyrik steht die Musik der Freunde Cardenals vom Tübinger Latino-Ensemble Grupo Sal. Auch das ist Lateinamerika: „Musik, die man mit den Hüften hören muss“, wie sie sagen. Aus diesem Zweiklang von Lebensfreude und politischem Kampf ist wohl am besten Cardenal zu verstehen.

Eine Reise in die Vergangenheit

Irgendwann reicht eine Frau aus dem Publikum eine Dose mit Hustenbonbons auf das Podium. Alle – Gast und Besucher – sind festen Willens, diesen Abend gelingen zu lassen. Und alle sind nach knapp zweieinhalb Stunden sehr zufrieden. Sie haben eine Lesung und ein Konzert erlebt. Aber für viele war es auch ein Eintauchen in die eigenen Vergangenheit. „Ich fühle mich gleich 30 Jahre jünger“, sagt eine Besucherin und erzählt von den Kirchentagen, auf denen Cardenal Stammgast war. Nach jedem dritte Satz brandete damals Beifall auf, erinnert sie sich. Heute warten die Gäste artig ab, bis der Poet zu Ende gelesen hat. Vielleicht sind die Helden alle miteinander etwas müde geworden. Aber Cardenal scheint dennoch ungebrochen, der Welt sein Aber entgegenzuhalten. Dass ihm dabei an diesem Abend manchmal die Stimmer versagt, ist nur ein vorübergehende Erscheinung.

Interview mit Cardenal: „Ich bin Dichter und Revolutionär“

Ernesto Cardenal setzt auf die Jugend. Bei ihr sieht er seinen Wunsch nach Veränderung wachsen. Als Gescheiterter sieht er sich dennoch nicht, Auch wenn die Welt so ist, wie sie ist.
Herr Cardenal, die Welt scheint nicht gerechter und auch nicht friedlicher zu werden. Haben Sie manchmal das Gefühl, Ihr Kampf war umsonst?
Es stimmt, dass die Welt nicht friedlicher geworden ist und auch nicht gerechter, doch stimmt es nicht, dass mein Werk das Gefühl vermittelt, dass mein Kampf umsonst gewesen sei. Ganz im Gegenteil, das Gefühl, das ich vermittle, ist ein Gefühl der Hoffnung. Man denkt ja auch nicht, dass Jesus das Gefühl vermittelt, sein Kampf sei umsonst gewesen.

Sehen Sie Ihre Ideen von einer gerechteren Welt denn irgendwo verwirklicht? Und wenn ja: wo?
Ich sehe nicht, dass meine Vorstellung einer gerechten Welt irgendwo Realität geworden ist. Ich sehe jedoch wohl, dass es einen stetig wachsenden Willen gibt, dass sie Realität werden soll, vor allem unter den jungen Leuten auf der ganzen Welt.

Gegner werfen Ihnen vor, sich manchmal die falschen Gesprächspartner gesucht zu haben, Muhammad al-Gaddafi beispielsweise. Bereuen Sie solche Begegnungen, wenn Sie sehen, wie er sich an seine Herrschaft geklammert hat und was er hinterlassen hat?
Ich habe nie mit Gaddafi ein Gespräch geführt. Als Mitglied einer offiziellen Regierungsdelegation war ich einmal sein Gast und habe aber mit ihm nicht mehr als einen höflichen Gruß ausgetauscht. Das muss ich nicht bereuen. In meiner Biografie erzähle ich von meinem Besuch in Libyen mit dieser Delegation, spreche jedoch im Rahmen der Erzählung kein Lob für Gaddafi aus.

Wo steht die Befreiungstheologie aus Ihrer Sicht heute?
Befreiungstheologie, also Teología de la liberación, ist in Wirklichkeit eine Revolutionstheologie, also Teología de la revolución. Diese Theologie ist vom Vatikan verfolgt worden. Der Vatikan ist ein Feind jeglicher Revolution, und deshalb ist diese Theologie heute in der ganzen Welt sehr geschwächt. Aber wie der brasilianische Bischof Pedro Casaldáliga sagte: Solange es Arme auf der Welt gibt, wird es auch Befreiungstheologie geben.

Hat Ihnen irgendwann einmal ein offizieller Vertreter der katholischen Kirche die Hand gereicht oder ist das Tischtuch für immer zwischen Ihnen und der Kurie in Rom zerschnitten?
Der zweite Mann im Vatikan nach dem Papst, Staatssekretär Kardinal Casaroli, dessen Büro direkt unter dem des Papstes liegt, hat es versucht. Doch dann wurde er selbst von dort weg versetzt.

Wie sehen Sie den Einsatz des Papstes für eine gerechte Welt?
Ich sehe keinerlei Verpflichtung des Papstes in diesem Sinne, genauso wenig wie beim vorigen. Und die Politik dieses Papstes, die darin bestanden hat, das Zweite Vatikanische Konzil zu demontieren und die Kirche um mehrere Jahrhunderte zurück zu werfen, ist genauso schlimm wie die des vorigen Papstes gewesen oder sogar noch schlimmer.

Die Diskussion um eine gerechte Verteilung der Ressourcen lebt gerade wieder sehr stark auf. Dabei geht es auch darum, dass wir dort, wo Nahrungsmittel angebaut werden können, Pflanzen für die Spritherstellung anbauen. Was bedeutet diese Entwicklung für die Menschen Mittelamerikas?
Das ist eine technische Frage, die ich nicht beantworten kann, weil ich kein Kenner dieser Materie bin.

Als was fühlen Sie sich heute stärker: als Dichter oder als Politiker?
Ich war nie Politiker, sondern immer Revolutionär und revolutionärer Dichter. Und ich bin auch heute noch Dichter und Revolutionär.

Woher nehmen Sie die Kraft, sich immer noch einzumischen?
Die Kraft, die ich habe, um mich einzumischen, wenn ich überhaupt über eine solche verfüge, kommt von Gott, von dem her mir alles zukommt.

Bemerken Sie bei sich im reifen Alter eine Tendenz, versöhnlicher gestimmt zu sein?
Ich glaube, ich bin immer versöhnlich gewesen, nicht nur in meinem Alter.

Hilft Ihnen Ihre Lyrik, die Welt, wenn Sie sie schon nicht ändern können, zu ertragen?
Meine Poesie und die vieler anderer in der gesamten Menschheitsgeschichte, hat versucht, die Welt zu verändern. Und wenn sie es nicht geschafft hat, die Welt zu verändern, so hilft sie doch wenigstens, dies alles zu ertragen.